Frida Kahlo nutzte ihres als Skizzenbuch, E.T.A. Hoffmann zeichnete die Anzahl der getrunkenen Weingläser in seines ein und Lord Voldemort gelang es sogar, einen Teil seiner Seele darin zu verbergen – die Rede ist vom Tagebuch. Trotz neuer Ausdrucksformen wie Blogs, Instagram und TikTok, schreiben noch immer zwei Drittel aller 15 bis 24-jährigen Frauen regelmäßig. Bei den Männern ist die Zahl etwas geringer. In meinem Regal finden sich Aufzeichnungen, die ich seit 2003 mit einigen Unterbrechungen führe. Sie sind meine Stütze beim Konfliktlösen, Dankbarsein und Entschleunigen. Grund genug für mich zu hinterfragen, seit wann der Mensch überhaupt Tagebuch führt und welcher Sinn dahintersteckt. 

Geschichte des Tagebuchs 

Vielleicht finden meine Beschwerden über „Mrs. Superkompliziert, die allen außer mir ihre Geheimnisse erzählt“ irgendwann ein Zuhause im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Dort werden seit der Gründung 1998 die Leben vieler Menschen verwahrt. Das Archiv hält bis zu 20.000 private Schriften, ein wahrer Schatz an Erinnerungs- und Alltagskultur. Online lassen sich inzwischen 15.000 dieser Ego-Dokumente nachlesen. Tagebuchschreiben ist nämlich viel mehr, als festzuhalten, wen jemand gerade so „unfassbar süß“ findet. Es sind wichtige Dokumente, sprechende Zeitzeugen, die helfen, vergangene Zeiten zu entschlüsseln. Das Museum beherbergt Stücke, die ab dem 19. Jahrhundert geschrieben sind, die Ursprünge reichen jedoch deutlich weiter zurück.  

Schon in der Antike führen römische Kaiser Buch über Kriege oder wichtige Ereignisse, so hält beispielsweise Plinius der Jüngere den Ausbruch des Vesuvs in Briefen fest. Im Mittelalter fungierten Mönche als Geschichtsschreiber. Der Alltag und Gefühle, wie wir sie aus heutigen Selbstaufzeichnungen kennen, spielten keine Rolle. Das Tagebuch, wie wir es heute kennen, entstand schließlich in der Renaissance: Zum einen, da das Papier erfunden wurde, was als Schreibmaterial deutlich erschwinglicher war als das aus Tierhaut gefertigte Pergament. Zum anderen, da mit der Renaissance ein neues Bewusstsein für das Ich entstand. Vereinfacht gesagt: Die Zuordnung in Stände durch die Kirche verlor an Bedeutung, sodass das eigene Ich an Wichtigkeit gewann.  

Die ersten Tagebücher erinnern eher an Chroniken und sind in ihrem Ton objektiv gehalten. Die Schilderungen beschreiben nur den Alltag, ohne irgendwelche Gefühle auszudrücken oder zu reflektieren. Mit dem 18. Jahrhundert werden sie immer subjektiver und sentimentaler, so wie wir sie jetzt kennen. Die Einflüsse des Sturm und Drang und später der Romantik schlagen sich nun in den Schriften nieder und die Aufzeichnungen werden immer mehr zu Selbstbiografien, in denen es um die eigenen Gefühle und Probleme geht. 

„Nach einer Ausschweifung fühlt man sich stets noch einsamer, noch verlassener“, klagt Baudelaire. Mit dem Beschreiben seines Schmerzes ist er nicht alleine. In der Moderne wird er zum Leitmotiv. Auch heute verhandelt das Tagebuch oft die negativen Seiten des Lebens wie Liebeskummer und Schuld- und Arbeitsprobleme. In Ausnahmesituationen gewann das Schriftmedium immer wieder an Aufschwung. Die zwei Weltkriege sind gut durch Tagebücher dokumentiert. Das berühmteste Beispiel hierfür ist wohl das von Anne Frank. Ihre Aufzeichnungen zeigen die Kraft der Worte, die ein Journal entfalten kann. 

Ort der Ideen 

So ist es kein Wunder, dass die veröffentlichten Tagebücher ein eigenes Genre Tagebuchliteratur bilden. Es wird zu einer literarischen Werkstatt für Kafka, Goethe und viele andere Größen der Literatur. Schreiben lädt zum Ausprobieren ein, daher reicht der Stil vom alltäglich-anspruchslosen bis zum ästhetisch-literarischen. Durch ihre eindringliche und authentische Form lassen sie sich fast wie Romane lesen. 

Tagebuchschreiben, das passiert in den vielfältigsten Formen: Traumtagebücher, Food-Diaries oder die Lesetagebücher von Bookbloggern sind nur einige Beispiele. Genauso vielfältig ist auch der Grund, warum wir zum Stift greifen. Mit dem Schreiben lässt sich das Leben bewahren, die Emotionen regulieren, Geschichte(n) schreiben oder eine eigene Schreibwerkstatt eröffnen. 

Der Bridget-Jones-Effekt: Das Tagebuch als Universal-Heilmittel 

Die selbstheilenden Kräfte des Tagebuchschreibens sind nach Bridget Jones benannt, die sich im gleichnamigen Film mittels ihrer Aufzeichnungen ständig selbstreflektiert. Hinter dem Effekt verbirgt sich eine Wirkung, die gegen eine Palette von Krankheiten helfen soll, wie Depressionen, Traumata und auch Herzkrankheiten. Sie sollen durch das Schreiben begleitet und gebessert werden können – so eine Studie der University of California. Poesietherapie bestärkt den:die Schreiber:in. So seien Tagebuchschreiber:innen besser im Konfliktlösen, sie finden besser in den Schlaf und können schneller Stress abbauen. Andere Forschungen zeigen aber auch die Schattenseiten: Das Aufzeichnen der Erlebnisse verhindern ein Loskommen von traumatischen Ereignissen, wenn sie diese immer wieder schriftlich festhalten. Dies könnte auch daran liegen, dass vor allem gesundheitlich angegriffene Menschen schreiben. „Wir konnten nicht zeigen, was zuerst da war – das Schreiben oder die Gesundheitsprobleme“, sagt Elaine Duncan von der Universität in Glasgow in einem Interview mit der Welt.  

Weitere Studien belegen Gegenteiliges: Expressives Schreiben verbessere das Gedächtnis und den IQ. Es helfe außerdem einer besseren mündlichen Ausdrucksweise, so eine Studie an der Stanford University. Auch fördere es die Kreativität und die Problemlösungskompetenz. Das Aufschreiben zwingt uns dazu, die linke Gehirnhälfte zu aktivieren, die für Kreativität und Intuition zuständig ist. Da sich viele Probleme nicht rein logisch oder analytisch mit der rechten Gehirnhälfte lösen lassen, haben Schreiberlinge hier einen Vorteil. Sie sind gezwungen, das Problem von allen Standpunkten aus zu betrachten, um es schließlich schneller zu lösen. Die verschiedenen Untersuchungen zeigen: Das Tagebuchschreiben ist ein richtiger Selbstbewusstseins- und Selbstreflektionsbooster. 

Die Autor:innen der 20.000 Dokumente, die im Deutschen Tagebucharchiv verwahrt sind, haben demnach einiges richtig gemacht, ihr Leben auf Papier festzuhalten. Wie es für meine Notizen weitergeht, weiß ich noch nicht. Vielleicht weise ich meinen Erben dazu an, die Bücher an das Archiv zu senden, wie so viele vor mir. Wer weiß, eines Tages findet dann ein:e Studierende:r beim Durchgehen meine Aufzeichnungen und kann die Beschwerden über Theo*, “der mir nie bei ICQ antwortet, obwohl er on ist” für seine Seminararbeit verwenden. 

*Name von der Redaktion geändert

Autor*in
Share.
Leave A Reply