Ein Flugzeug verschwindet – stürzt ab in den Französischen Alpen. Alle Menschen an Bord sterben, der Täter ist keine 96 Stunden später erkannt und verurteilt. Der Co-Pilot war depressiv und hat deshalb seinen Suizid mit 149 weiteren Opfern begangen. Nicht nur die BILD, Deutschlands größte Illustrierte auf Zeitungspapier, auch respektable Medien urteilen binnen Stunden. Geschuldet ist dies der Schnelllebigkeit unserer Zeit. In Tagen, in denen jede Information binnen Sekunden abrufbar ist, hat ein Konsument keine Zeit, die Ergebnisse einer gewissenhaften Untersuchung abzuwarten. Eilige Schlüsse sind häufig – selten gut.

In wilden Spekulationen verliert sich die Medienkultur gerne, wenn sie auf Katastrophen trifft. Nur Naturkatastrophen gebieten noch neutrale, zweckmäßige Berichte und vorsichtiges Vorsehen. Kaum eine Woche nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war die Invasion Afghanistans beschlossene Sache – die Anschläge von Madrid und London fanden fix ihre Urheber – die Informationen deckten sich nur zum Teil mit den Ergebnissen der Abschlussuntersuchungen. Die Insassen des über der Ukraine abgeschossenen Fluges MH 17 sind schon auf der Liste der Opfer Wladimir Putins vermerkt. Diese Tendenzen existieren seit Beginn der modernen Berichterstattung; bis zum Absturz der Germanwings-Maschine begrenzten sich die postwendenden Schlüsse und Mutmaßungen jedoch in ihrer Präsenz auf Internetforen und die Gespräche von Verschwörungstheoretikern. Seit März diesen Jahres wird nun auch in großen Medien wild spekuliert, es werden journalistische Gebote ignoriert, um den hungrigen Schlund des Lesers nimmersatt zu stopfen.

Man muss Elend nicht abbilden, um es darzustellen. Man muss Trauernde nicht zeigen, damit ihrer Trauer Ausdruck verliehen wird. Aus Fenstern stürzende Büroarbeiter sind für die Wahrheitsfindung und eine angemessene Berichterstattung genauso nutzlos wie Namen von tatverdächtigen Piloten. Wenn die mediale Präsenz eines Themas nur dazu dient, die Sensationsgeilheit der Massen zu befriedigen, wird sie selbst obsolet, denn sie verrät sich. Es sterben jährlich weltweit etwa 500 Menschen bei Flugzeugabstürzen – so viele Menschen sterben allein in Deutschland binnen zwei Monaten im Straßenverkehr. Die Zahlen beruhigen die Passagiere natürlich nicht, Unglück bleibt Unglück – die Statistik ist da egal. Ein unnötiges Überhöhen hindert mehr, als dass es hilft. Von Al-Qaida bis zu zwangsneurotischen Rassisten gegen jeden Migranten, der ihnen keinen Döner verkauft, jedes Problem, jede Katastrophe, jeder Unglücksfall wird aufgebauscht. Sensationen sind die Spiele unserer modernen Gesellschaft geworden. Wir respektieren Menschen auf den ersten Blick genug, um uns nicht an ihrem Leid zu ergötzen – sind somit also einen Schritt weiter als die Römer in ihre Arenen. Doch wenn das Blut nicht auf Sand in Pompeji tropft, sondern in hohem Bogen durch eine Einkaufsstraße in Bagdad spritzt, sind wir wieder alle dabei, an vorderster Front, die Augen weit aufgerissen, starrend. Wir starren nicht gezwungenermaßen wie Soldaten, die von Kriegserinnerungen geplagt werden, sondern freiwillig auf das Elend und lassen uns Angst machen, lassen Maßstäbe verwässern und betrinken uns masochistisch an der braunen Lache. Wie Junkies suchen wir den nächsten Rausch, den nächsten Trip, das nächste Unglück, das erneute Chaos.

In unserer Zeit fällt es schwer, Menschen klar zu machen, dass unsere Gegenwart nicht zwingend der Dystopie von 1984 entspricht. Wir werden zweifelsohne überwacht, die NSA hat mehr Bildmaterial von Penissen auf ihren Servern gespeichert, als Pornhub und xHamster je online stellen könnten. Das Smartphone weiß noch ganz genau, wo man am letzten Abend war, auch wenn man selbst sich dieses Wissen mit Tequila aus den grauen Zellen geschlürft hat. Payback weiß, wo ich welche Pizza kaufe, wann ich selbst koche, wann ich eine Fix-Mischung verwende und kann damit nicht nur das Einkaufen für mich optimieren. Diese Überwachung lässt uns im Glauben, dass die Einschränkung unserer Freiheiten unsere größte Sorge sein muss. Vielleicht sind wir in dieser Überzeugung schlechterdings einer Unwahrheit aufgesessen. Es erscheint möglich, dass unsere Sucht nach Konsum und ‚immer mehr‘ sich in der Sucht nach Angst und Schrecken, dem Drang zur Unverhältnismäßigkeit und der freiwilligen Unterwerfung unter götzenhafte Medien zeigt. Wir sind süchtig nach dem, das uns am meisten ängstigt – die Medien befeuern unser Drogenproblem nur zu gerne. Wir besinnen uns nicht mehr auf die Werte der Aufklärung, die Macht von Sinn und Verstand. Wir werden zu Tieren, die wie hirnlos dem Nervenkitzel hinterherjagen. Wir reduzieren uns selbst auf niederste Triebe und verraten uns. Es bedarf nicht der BILD, um uns zu verdummen – wie Faschismus existiert Dummheit nur, wenn man sie unterstützt – wir sind selbst verantwortlich, wir selbst tragen die Schuld, machen die Medien zu unserer Geißel.

„O wonder!
How many godly creatures are there here!
How beauteous mankind is! O brave new world,
That has such people in’t.“ (William Shakespeare, The Tempest)

Vielleicht hatte Huxley Recht…

Autor*in

Paul war seit Ende 2012 Teil der Redaktion. Neben der Gestaltung des Layouts schrieb Paul gerne Kommentare und ließ die Weltöffentlichkeit an seiner Meinung teilhaben. In seiner Freizeit studierte Paul Deutsch und Anglistik an der CAU.

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