Islamwissenschaftler Arash Guitoo über die Proteste im Iran  

Im Iran protestieren Menschen seit Monaten für Gleichberechtigung und gegen Unterdrückung. Auslöser war der Tod von Mahsa Amini nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei. Vor allem Frauen führen die Bewegung unter der Parole ‚Jin Jiyan Asadî!‘ – ‚Frau, Leben, Freiheit!‘ an. DER ALBRECHT hat mit Islamwissenschaftler und Exil-Iraner Arash Guitoo über die Proteste gesprochen. 

DER ALBRECHT: Wie ist die Situation für Frauen im Iran? 

Nach der Islamischen Revolution von 1979 gab es einen großen Rückgang der Rechte für Frauen durch die Islamisierung des Rechtswesens. Auf der strukturellen Ebene sind Frauen systematisch diskriminiert. In vielen Bereichen haben sie nur halb so viele Rechte wie Männer und sind stark von ihnen abhängig. 

Frauen brauchen zum Beispiel die Erlaubnis ihres Mannes, um arbeiten zu können. Das System bietet Frauen keine Aufstiegschancen auf politischer Ebene. Es gibt kein Scheidungsrecht für Frauen. Sie brauchen eine Vollmacht von ihrem Ehemann, um sich von ihm scheiden zu lassen. Männer können ihre Frauen jederzeit von einer Ausreise abhalten. Sie erhalten bei einer Erbschaft halb so viel wie ein Mann. Frauen haben keine rechtlichen Verfügungen über die Angelegenheiten ihrer Kinder und weniger Sorgerecht. Frauen dürfen nicht alleine ins Hotel. Außereheliche Beziehungen sind verboten. Sowohl strukturell als auch im alltäglichen Leben leiden Frauen.  

Besonders verankert ist außerdem die Kontrolle über das Aussehen von Frauen in der Öffentlichkeit. Das Regime hat immer versucht, durch die Kontrolle über den Körper besonders von Frauen seine Überlegenheit zu zeigen. Dabei geht es um Macht. Gegen all das wird aktuell protestiert. Es geht den Menschen um Gleichberechtigung, um den Wunsch nach einem anderen Leben. 

Welche Rolle spielen Frauen dabei? 

An iranischen Protestbewegungen waren schon früher Frauen beteiligt. Arbeiterinnen und Studentinnen sind für wirtschaftliche, studentische und soziale Forderungen auf die Straße gegangen. Anders ist jetzt, dass das Hauptanliegen Frauenrechte und Gleichberechtigung ist. 

Wie kommt es zu dieser Entwicklung? 

Frauen haben in den letzten Jahrzehnten immer mehr an der Gesellschaft teilgenommen. Wegen der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation im Iran gab es mehr berufstätige Frauen, die mit ihrem Einkommen ihre Familien wesentlich unterstützten. Das Bildungsniveau ist gesamtgesellschaftlich gestiegen und eine höhere Zahl von Frauen studiert. Das hat nicht direkt zu strukturellen Veränderungen geführt, aber zu einer anderen Verhandlungsposition in der Rolle von Frauen. Emanzipation ist auch eine Lebenserfahrung, dadurch kam die Frage nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frauen auf. Diese Entwicklung ist nicht abgeguckt aus dem Westen, sondern im Iran selbst durch Alltagserfahrungen entstanden. 

Auch die Männer, die von dem System bis jetzt profitiert haben, stehen hinter der Bewegung und gehen mit den Frauen auf die Straße. Familien haben gemeinsam diesen Wandel durchgemacht. Die Menschen sind an einem Punkt, wo sie nicht mehr bereit sind, die Diskriminierung anderer zu ertragen. Es wird über Frauenrechte, aber auch über die Rechte religiöser und sexueller Minderheiten diskutiert. 

Hilft die internationale Aufmerksamkeit den Menschen im Iran? 

Das hilft Menschen vor Ort natürlich. In einer globalen Welt können wirtschaftliche und politische Entscheidungen die Menschen im Iran betreffen. Großdemonstrationen, wie im Oktober in Berlin, können international nicht ignoriert werden. Wir können dafür sorgen, dass das Thema nicht vergessen wird. 

Soziale Medien helfen, Bilder und Geschehnisse zu verbreiten. Deshalb ist aktuell das Internet im Iran lahmgelegt. Das beweist, wie außergewöhnlich die Lage auch aus der Sicht der Machthaber ist. 30 000 Verhaftete und Hunderte öffentliche Todesurteile zeigen, dass dieser Ausnahmezustand nur durch brutalste Gewalt vom Regime eingegrenzt werden kann. 

Wichtig ist, dass alle Menschen reflektieren, warum diese Ereignisse in einem Land so weit entfernt von Deutschland auch für sie hier relevant sind. Nicht nur rein aus Menschlichkeit sondern auch rational. Unsere Welt polarisiert immer mehr. In dieser Phase sollten wir umso mehr demokratische Bewegungen unterstützen. Der Iran hat hohen Einfluss auf die Nachbarländer. Ein demokratisches System im Iran hätte eine stabilisierende Wirkung auf die Region und würde perspektivisch zu einer freieren Welt beitragen.   

Wird es durch die Proteste progressive Veränderungen geben? 

Nicht innerhalb des aktuellen Systems. Ob es eine Revolution und einen Regierungswechsel gibt, kann ich nicht vorhersagen. Für eine Revolution brauchen Gesellschaften eine Vision. Ich denke, die ist vorhanden. Es geht um nichts weniger als Gleichberechtigung, Freiheit und Selbstbestimmung. Die Religiosität im Land hat abgenommen und es kann keine Theokratie mit einer Bevölkerung geben, die nicht mehrheitlich an den propagierten Gott glaubt. Ich denke nicht, dass das Regime sich halten wird. Wie soll eine Bevölkerung klein gehalten werden, die ideologisch so weit vom System entfernt ist und diesem mit so viel Hass gegenübersteht? 

Sicher ist, eine Rückkehr zu dem Zustand vor diesen Protesten wird es nicht geben. Millionen Menschen im ganzen Land gehen seit Monaten auf die Straße. Diese Situation ist präzedenzlos.

Vielen Dank für das Gespräch. 

Autor*in

Melina studiert Biologie und ist seit Juni 2020 Redakteurin beim Albrecht. Sie schreibt vor allem für das Ressort Hochschule.

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