Der Albrecht: Würden Sie sagen, dass man von einer kollektiven europäischen Identität sprechen kann?

Politikwissenschaftler Dr. Wilhelm Knelangen.
Politikwissenschaftler Dr. Wilhelm Knelangen.

Dr. Wilhelm Knelangen: Die Frage ist, was man eigentlich darunter versteht. Es gibt eine ganze Menge von Gemeinsamkeiten, die man trotz der vielen Unterschiede zwischen den europäischen Staaten und Gesellschaften, im Vergleich der Europäer zu Amerika, Asien oder Afrika feststellen kann. Wenn mit kollektiver Identität eine Art nationaler Identität gemeint ist, eine Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft, dann wird man sicher sagen können, dass wir trotz 60 Jahren europäischer Integrationsgeschichte diesen Status nicht erreicht haben. Die Eurokrise hat uns meinem Eindruck nach gelehrt, dass wir vielleicht noch weiter hinter einer europäischen Identität im Sinne einer belastbaren Gemeinschaftsidentität zurück sind, als wir bisher angenommen haben. Nationale Interpretationsmuster, nationale Interessen sind sehr weit verbreitet. Zu einer Art nationalen Identität Europas würde eine starke gemeinschaftliche Solidarität gehören; dass man bereit ist, anzuerkennen, einer gemeinsamen Gruppe anzugehören, und insofern auch der Starke dem Schwachen Unterstützung zukommen lässt. Die Bereitschaft dafür ist begrenzt.

Welche Rolle spielt der Friedensgedanke?

Der Friedensgedanke ist auf der einen Seite grundlegend. Es kommt der jungen Generation der Gedanke absurd vor, dass junge Menschen mit Waffen in den Krieg gegeneinander ziehen. Das kann man sich innerhalb der EU gar nicht mehr vorstellen. Das ist gut und wichtig. Andererseits ist die EU hier auch Opfer ihres eigenen Erfolges, denn es reicht nicht mehr aus, nur darauf zu verweisen, dass die EU Frieden bringt. In der aktuellen Krise sehen wir, dass es nicht genügt, Probleme mit dem Friedensargument wegzudiskutieren. Die Menschen erwarten konkrete Antworten auf die aktuellen Schwierigkeiten, da ist das Argument des Friedens zu abstrakt.

Kann man in der aktuellen Krise von einer deutschen Hegemonie sprechen?

Natürlich wird die Bundesrepublik einerseits in die Führungsrolle gedrängt – Eurorettung ohne Deutschland funktioniert nicht. Andererseits sind der Einfluss und die Macht der Bundesrepublik sehr groß, gut ein Drittel der Finanzmittel stammen aus Deutschland. Und diese Macht wird auch eingesetzt, die Bundesrepublik hat die Sparpolitik und die strikte Haushaltskonsolidierung mit den entsprechenden Effekten für die Nachfrage und den Arbeitsmarkt in den Euro-Krisenländern durchgesetzt. Da kann man eindeutig davon sprechen, dass das eine deutsche Handschrift trägt.

Widerspricht eine reduzierte, kollektive europäische Identität nicht der Idee der europäischen Integration?

Ein Merkmal der europäischen Identität ist sicherlich die Vielfalt. Insofern basiert auch jedes Konzept von europäischer Identität auf den Verschiedenheiten in Geschichte und Erinnerung. Wir sind meiner Meinung nach in der Wissenschaft etwas zu optimistisch gewesen, anzunehmen, dass eine Transformation von einer nationalen zu einer europäischen Identität möglich ist. Von dieser Idee muss man Abstand nehmen. Heute stellen wir fest, dass eine europäische Identität immer etwas ist, das neben oder parallel zur nationalen Identität existiert. Die Frage muss sein, ob sich neben der nationalen Identität eine europäische Identität formen kann, die in Krisen hilft, Europa zusammenzuhalten. Wir handeln in der Europapolitik immer noch zu sehr nach nationalen Interessen. Uns fehlt eine politische Führung von Überzeugungstätern, die die europäische Idee auf ihre Agenda setzt. Da sehe ich derzeit niemanden. Der letzte war vielleicht Joschka Fischer als jemand der auch beherzt gewagt hat, neue Wege zu gehen. Allerdings hat auch er die Erfahrung des Scheiterns machen müssen.

Sind wir als Deutsche europäischer in Ermangelung eines starken Nationalstolzes?

Ich sehe dafür keine Anzeichen. Natürlich ist es in Anbetracht der deutschen Geschichte schwer, Errungenschaften oder Leistungen zu nennen, ohne dabei an den Nationalsozialismus als Gegenbeispiel zu denken. Aber im Selbstbild der Deutschen spielen der Stolz auf die Aufbauleistung, die wirtschaftliche Stärke oder die technische Präzision eine wichtige Rolle. Richtig ist, dass wir die Bundesrepublik ohne den europäischen Kontext kaum noch denken können. Aber dass es hier keinen Nationalstolz oder kein Nationalgefühl gäbe – das sehe ich nicht. Und sieht man sich beispielsweise die Umfragen des Eurobarometer an, dann kann man auch sehen, dass die Deutschen keineswegs europabegeisterter sind als der Durchschnitt in der EU.

Das Interview führten Paul Stahnke und Jasmin Helm.

Autor*in

Paul war seit Ende 2012 Teil der Redaktion. Neben der Gestaltung des Layouts schrieb Paul gerne Kommentare und ließ die Weltöffentlichkeit an seiner Meinung teilhaben. In seiner Freizeit studierte Paul Deutsch und Anglistik an der CAU.

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