FB-Teaser / Auszug:  Die Niqab-Diskussion spaltet die Kieler Studierenden. Das beste Argument für ein Verbot haben sie bisher jedoch nicht zur Kenntnis genommen. Es handelt sich um den Wert der Gleichheit.

Überzeugt das an der CAU erlassene Niqab-Verbot? In Lehrveranstaltungen, Prüfungs- und Beratungsgesprächen ist der Gesichtsschleier nicht mehr erlaubt. Denn die „offene Kommunikation“, zu der auch Gestik und Mimik gehörten, zähle zu den „Mindestvoraussetzungen“ für die „Erfüllung universitärer Aufgaben“, begründete das Präsidium seinen Beschluss. Allen voran Angehörige des Englischen Seminars haben dieser offenbar pragmatischen Begründung widersprochen – und kurzerhand zu einer Petition aufgerufen: Ein Niqab stehe der universitären Kommunikation nicht im Weg, weil Mimik und Gestik weder in Klausuren, noch Hausarbeiten, oder mündlichen Prüfungen einbezogen werden dürften. Und zur Identifikation könnte der Niqab kurz angehoben werden. Das Problem: Die Kritiker haben sich auf ein allzu schwaches Argument gestürzt. Denn nicht pragmatische Erwägungen, sondern vor allem der Wert der Gleichheit sollte uns von einem Niqab-Verbot überzeugen.

Der neue Sexismus – oder warum es uns so schwer fällt, den Schleier zu kritisieren

Woher kommt die Furcht vieler Kommilitonen, mit der Kritik am Tragen eines Stücks Stoffs zugleich dessen Trägerinnen zu diskreditieren, sie ihrer Freiheit und Autonomie zu berauben? „Der neue Antisemitismus“, meint Alain Finkielkraut (Zeit 9/2019) nach Beleidigungen durch die Gelbwesten in Paris, „gibt sich als Anti-Rassismus aus […]. Wir erleben einen anderen Antisemitismus, der umso gefährlicher ist, weil er sich nicht anklagen lässt. Denn er kommt im Namen der Unterdrückten, der Entrechteten und einer leidenden Menschheit daher“. Wer ‚Antisemitismus‘ durch ‚Sexismus‘ austauscht, der erhält eine nicht weniger zutreffende Diagnose. Wenn sich die kulturwissenschaftliche Linke ein Lieblingsobjekt fremdadvokatorischer Absichten ausgesucht hat, dann ist es vielleicht die durch den Westen unterdrückte Muslima. Der ihr widerfahrene Sexismus durch die eigene Kultur lässt sich allerdings nicht bzw. angeblich nur rassistisch anklagen. Denn er kleidet sich ins Gewand der universitär verehrten Diversität und gibt sich als Ausdruck einer spezifisch muslimischen weiblichen Freiheit. Er untersteht dem Schutz einer gegenwärtigen Identitätspolitik, die den für eine Demokratie erforderlichen rationalen Diskurs bedroht. Aufrichtig vertretene Ansichten erhalten, meint Francis Fukuyama in „Identität“ (2019), in unserer politischen Kultur den Vorzug vor vernünftigen Überlegungen. Denn die Meinung einer Person sei mit dem verschmolzen, was sie als ihr einzigartiges Selbst erachtet und damit stets potentielle Zielscheibe der Diskreditierung des Sprechers. Die Universitäten sind die Keimzellen der kulturwissenschaftlichen Linken, sie bilden den Nährboden einer problematischen Identitätspolitik im Namen der Diversität. Das erklärt, warum es uns, den Kieler Studierenden, so schwer fällt, Kritik zu üben.

Selbstgewählte Deprivation – oder: Was schützt das Ideal der Freiheit?

„Menschen gewöhnen sich an die Situation, in der sie sind. […] Wenn Frauen zum Beispiel im Glauben daran erzogen werden, dass sie nicht die gleichen Rechte wie Männer besitzen sollten, werden sie ihre Situation auch häufig als richtig und angemessen erachten.“ Martha Nussbaum, selbst entschiedene Gegnerin eines Schleierverbots,  ruft uns mit ihren Worten in der Taz (17.2.2009) zunächst eine Differenz in Erinnerung: Ein Abstand ist möglich zwischen dem, was wir faktisch wollen und unserem aufgeklärten Eigeninteresse. David Hume irrte sich, als er in seinem Traktat über die menschliche Natur schrieb: „Reason is and ought only to be the slave of the passions“. Denn jeden meiner Wünsche kann ich nicht nur für sich, sondern auch auf seine Genesis hin befragen. Es fällt uns leicht, Beispiele für eigene Wünsche zu finden, deren Erfüllung uns in irgendeiner Form schaden würde. Ich kann Wünsche Anderer berechtigterweise für falsch halten, wenn sie darauf abzielen, sie in irgendeiner Weise – sensorisch, sprachlich, kognitiv – zu deprivieren. Allem akademisch virulenten (Kultur-)Relativismus zum Trotz kann ich dabei an ein universell geteiltes Wissen darüber appellieren, welche Handlungen uns, d.h. den Menschen vom geteilten Wunsch des Glücks und der Zufriedenheit abbringen.

Eine Deprivation zeitigt auch das Tragen eines Niqabs und – wenn dazu getragen – eines körperverdeckenden Gewandes. Denn der Großteil zwischenmenschlicher Kommunikation verläuft nonverbal, also auch mimisch und gestisch. Nonverbale Kommunikation vermittelt Einstellungen und Persönlichkeitseigenschaften und erleichtert damit Empathie und reziprokes Verstehen. Sie ist aber auch ein Instrument, um Kompetenz auszustrahlen, sich Geltung zu verschaffen, Macht auszuüben. Der Niqab beraubt Frauen nicht nur einiger ihrer nonverbalen Ausdrucksmittel im öffentlichen Raum, sondern fördert zugleich eine Machtasymmetrie gegenüber Männern, die auf das volle kommunikative Repertoire zurückgreifen können und öffentlich umso wirkmächtiger auftreten, je privater die Frauen werden. Was also ist der Niqab funktional (ob auch intentional, ist eine andere Frage)? Er ist vor allem ein Herrschaftsinstrument, das die Öffentlichkeit zur Sphäre der Männer macht und das Private zu jener der Frauen.

Natürlich sollten die Benotungen von Hausarbeiten, mündlichen Prüfungen, Referaten und Klausuren bereinigt sein von solchen unbewussten Machtspielen, in denen Mimik und Gestik wirken. Doch das universitäre Leben erschöpft sich nicht in Prüfungsleistungen, die Universität ist keine reine Punktefabrik. Ja, es gibt sie, die machtasymmetrischen Prüfungssituationen zwischen Dozenten und Studenten, Doktorvätern und Promovenden. Aber dennoch: Die Überlegungen der Verbotsgegner beruhen auf einer naiven Dichotomisierung der Welt da draußen und unserem vermeintlich apolitischen Campus. Was sollte uns die Idee der Universität denn anderes sein, als auch die akademisch gewandte Idee der Demokratie, uns unabhängig von Klasse, Geschlecht und Religion als gleiche Subjekte in einem Diskurs zu versammeln, um im egalitären Raum der Gründe eine ganz eigene – intellektuelle – Freiheit zu erfahren? Wenn die Universität vor allem anderen getragen ist von jener Idee der Gleichheit, die unsere Demokratie fundiert, dann müssen wir als universitäre Subjekte gegen den Niqab sein. Denn die beschriebene Deprivation – ganz gleich aus welchen Motiven – ist ein Akt gegen die Gleichheit.

Diese Realität für kurzerhand für „bloß“ sozial konstruiert und ungerecht zu erklären, verfinge nicht: Eine Gesellschaft, in der Mimik und Gestik nicht mehr wichtig sind, um als kommunikatives Subjekt in der Öffentlichkeit aufzutreten und zur Co-Autorin des eigenen Lebens zu werden, müssten die Kritiker erst noch schaffen. Solange dies nicht der Fall ist, kann nicht geleugnet werden, dass das Tragen eines Niqabs die Chancenungleichheit geschlechtsspezifisch erhöht und Frauen gesellschaftlicher Optionen beraubt. Vergrößert die Universität aber durch ein Niqab-Verbot im Namen der Gleichheit nicht etwa noch diese Chancenungleichheit, weil sie die betreffenden Frauen aus der Universität ausschließt? Die Antwort lautet: Nein. Denn sofern die Frauen nicht von bestimmten Menschen oder ihrer Gemeinschaft zum Niqab-Tragen gezwungen werden (was kein Grund gegen ein Verbot wäre), stellt es ihnen selbst die radikalste Theologie offen, „nur“ Kopftuch zu tragen. Der Salafistenprediger Pierre Vogel meint auf YouTube: „Niqab geht, muss aber nicht.“ Und auch das Rechtsgutachten des arabischen Gelehrten Scheich Awadh Al-Garni von 2010, vor seiner Verurteilung wegen Plagiarismus noch angesehener muslimischer Geistlicher, legt nahe, dass es sich bei der Vollverschleierung keineswegs um eine notwendige Bedingung der eigenen Glaubensausübung handelt: Saudi-arabische Frauen, so Al-Garni, dürften in Europa unter Umständen auf die Verschleierung verzichten. Wenn der Ganzkörperschleier in der Öffentlichkeit verboten sei, sollten sich Musliminnen an das Gesetz halten. Die Befürchtung, Musliminnen exklusivistischer Glaubensrichtungen würde durch ein Verschleierungsverbot ihre religiöse Identität und zudem jede Möglichkeit genommen, sich überhaupt noch in der Öffentlichkeit zu bewegen, ist falsch. Eingeschränkt wird der bloße Wunsch der Muslima, sich mit dem Niqab zu verhüllen. Dieser Wunsch aber konfligiert mit dem universitären Wert der Gleichheit, der die Gleichheit in der Kommunikation mit einschließt.

Die sexistische Norm der ‚awra‘ und der Wert der Gleichheit

An dieser Stelle werden einige Kommilitonen einwenden, der bloße Wunsch, eine gute Muslima zu sein, sei für die betreffenden Frauen einfach wichtiger als das Bedürfnis, ohne kommunikative Behinderung durch den öffentlichen Alltag zu gehen. Aber beachten wir einmal die Genesis dieses Wunsches. Warum glauben also Frauen, einen guten Grund für die eigene Deprivation zu haben? Sie werden dies vielleicht damit begründen, Gott zu gefallen. Die entscheidende Frage hier lautet aber: Wer ist dieser Gott? Und warum würde es ihm gefallen, wenn ich ein Niqab trüge? Es ist kein Geheimnis, dass hinter der Verschleierung die arabische Norm der „awra“ steht, „jene Norm“, so schrieb der tunesisch-französische Autor Abdelwahab Meddeb, „die das Verschleiern des weiblichen Körpers unter dem Vorwand bestimmt, er rufe die ‚fitna‘ hervor, jene Verführung, die durch den durch sie ausgelösten Aufruhr Unordnung in das Gemeinwesen bringt.“ Diese Norm wird in offiziellen muslimischen Publikationen wieder und wieder beschworen. Sogar die in den Medien oft als liberal und bekennend demokratisch gefeierte Ahmadiyya verlautbart auf ihrer Internetseite, eine verschleierte Frau signalisiere, es komme ihr nicht auf Äußerlichkeiten an und sie sei nicht bereit für Flirts, da sie spirituelle Ziele habe.

Soll ich mich mit einem Niqab verhüllen, um vor den Blicken lüsterner Männer sicher zu sein? Was ist das für ein Gott, fragen muslimische Feministinnen wie Seyran Ateş seit Jahrzehnten, der den Frauen und nicht etwa den Männern die Verantwortung für ihre überschießenden Hormone überträgt? Ein Gott offenbar, der Frauen eine gewisse Freiheit nimmt, nur weil manche Männer sich angeblich nicht unter Kontrolle haben. Ein Gott, der die Frau dadurch nicht nur als sexuelles Objekt der Männer imaginiert, sondern auch in Reaktion auf letztere in ihrer öffentlichen Freiheit beschränkt. Wenn mein Wunsch, einen Niqab zu tragen, also auf einen Wunsch ebendieses Gottes beruht, der Ratschläge erteilt, die der laut Grundgesetzt Art. 3 Abs. 2 garantierten Gleichberechtigung der Geschlechter so massiv zuwiderlaufen, dann sollte ich wirklich darüber nachdenken, diesen Wunsch aufzugeben. (Den Schutz der Religionsfreiheit jedenfalls, kann ein derart ideologisch unterfütterter Wunsch nicht genießen.)

Warum also Niqab tragen? Steckt dahinter die Furcht vor einem strafenden Gott oder vor einer Gemeinschaft, die meine Ehre und die meiner Familie auf ein Stück Stoff reduziert? Liegt hier, in der motivationalen Basis des Wunsches, Niqab zu tragen, etwa kein Zwang, der sich selbstberuhigend als Freiheit ausgibt, die den unmöglichen Spagat zwischen Patriarchat und freier Gesellschaft zu ermöglichen verspricht?

Wir, die Kieler Studenten und Studentinnen, sollten zur Kenntnis nehmen, welche Kritik am Schleier seit Jahrzehnten von muslimischen Feministinnen und Aufklärerinnen geübt wird, statt uns auf jenen Pragmatismus zu stürzen, der in den Stellungnahmen des Präsidiums auf den ersten Blick ausgedrückt zu werden scheint. Sollte der Wunsch, Niqab zu tragen, auf sexistischem Gedankengut oder mehr oder weniger subtiler Nötigung beruhen, dann müssen wir, die Universität als kollektiver demokratischer Akteur, diesen Wunsch nicht in eine Interessenabwägung einbeziehen.

Individuelle Aneignungen, kollektive Bedeutungen

Natürlich können gutmeinende Relativierer einwenden, ich dürfe die Bedeutung eines religiösen Symbols doch nicht so pauschalisieren, sondern müsse seinen je individuellen Aneignungen Rechnung tragen. Das ist zweifelsfrei richtig: Welche Bedeutung eine Frau ihrem Niqab gibt, kann ich ihr von außen nicht ansehen. Diese Einsicht zum Einwand gegen ein Niqab-Verbot zu erheben, beruht jedoch auf der Leugnung von Implikaturen. Man stelle sich vor, ich begrüße meinen nigerianischen Freund das nächste Mal auf dem Campus mit dem N-Wort. Niemand wird leugnen, dass diese Begrüßung beleidigend und verächtlich ist. Selbst dann, wenn ich darauf insistiere, dass ich nur Spaß gemacht habe oder dass ich dem Wort ‚Nigger‘ eine ganz andere Bedeutung gegeben habe, nämlich ‚Kumpel‘ – ganz wie in der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur. Das liegt ganz einfach daran, dass dieser Begriff (aus dem Munde eines Weißen kommend) Konnotationen aufweist, die ganz unabhängig von meiner Intention oder meines Verständnisses des Wortes sind. Ich kann nicht einfach für mich Begriffe umbenennen und erwarten, mein Umfeld würde fortan meiner Bedeutung der Begriffe folgen. Es gibt – und das ist der Punkt – kollektiv hergestellte Bedeutungen von Zeichen, auf die ich achten muss. Ein Niqab ist ein solches Zeichen, das unabhängig von der Intention ihrer Trägerin implizit bestimmte Aussagen aufruft, weil es nicht nur ideologisch auf der Norm der ‚awra‘ beruht, sondern zugleich suggeriert, andere Frauen verdeckten zu wenig. Die Idee, Frauen könnten sich durch ihre Kleidung vor übergriffigen Männern schützen, impliziert einen fatalen, gesellschaftszerstörenden Schluss: Frauen, die sich nicht ausreichend verdecken, trügen eine Mitverantwortung an sexuellen Belästigungen, die sie durch Männer erfahren. Derlei Konnotationen stellen mitunter eine motivationale Basis für Handlungen dar – denken wir an die gerade im Zuge der Islamisierung Ägyptens überhand nehmende und ihren Höhepunkt 2011 auf dem Tahrir-Platz erreichte sexuelle Gewalt.

Damit gibt es gleich drei Gruppen von Menschen auf dem Campus, die sich legitimerweise durch die Implikaturen des Niqabs herabgewürdigt fühlen: erstens Studenten, die Verantwortung für ihr eigenes Verhalten tragen wollen, weil sie nicht der Meinung sind, dass ihre Biologie sie zu übergriffigen Monstern macht; zweitens Studentinnen, die denken, dass sie – egal wie sie sich kleiden – nicht selbst Schuld daran tragen, Opfer sexueller Gewalt zu werden; drittens (als Teilgruppe der zweiten Gruppe) muslimische Studentinnen, die sich gar nicht verschleiern, oder „nur“ Kopftuch tragen.

„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“, heißt es bei Kant. Wo beginnt die Freiheit von Frauen wie der Tunesierin Amina Sbui, die 2013 ein Bild von sich auf Facebook veröffentlichte? Auf ihrem nackten Busen stand: „Dieser Körper gehört mir. Er ist niemandes Ehre.“

 

Autor*in

Jonathan studiert Geschichte und Philosophie. Seit April 2014 schreibt er für den ALBRECHT. Sein Interesse gilt besonders Formen studentischer Selbstorganisation.

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