Gewalt in Protesten hat es in der Geschichte schon immer gegeben und auch heutzutage kommt es nach wie vor zu gewalttätigen Auseinandersetzungen auf Demonstrationen. Ist der Einsatz von Gewalt in Protesten gewinnbringend und gerechtfertigt? DER ALBRECHT diskutiert, ob und inwiefern Gewalt in Protesten eingesetzt werden sollte.


Gewalt in Protesten? Nein, meint Sophie

Dieckmann_Sophie Der Einsatz von Gewalt lässt sich in allen europäischen Ländern immer wieder auf Demonstrationen beobachten: Egal, ob in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland – Steine fliegen auf Polizisten, öffentliche Gebäude und Ladenzeilen werden demoliert, Autos und Telefonzellen brennen. Jüngst kam es während der Mai-Kundgebungen in vielen deutschen Städten wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstrierenden. Der Einsatz von Gewalt kann verschiedene Hintergründe haben, aber in den meisten Fällen entspringt er Frustration und Perspektivlosigkeit, Fremdenhass oder aber ist Ausdruck der Ablehnung des politischen Systems und der Gesellschaftsordnung.

Gewalttätige Demonstrationen scheinen in den Medien zwar eine größere Reichweite als gewaltfreie zu haben, jedoch sind sie in den seltensten Fällen erfolgreich. Denn wer Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele und Untermauerung seiner Forderungen verwendet, der stellt eine physisch spürbare Barriere zwischen sich und die kritisierte Gesellschaft. Gewalt entzieht einer Debatte auf Augenhöhe ihr Fundament, sie gewährt dem Gegenüber nicht den nötigen Respekt, der als Gesprächsgrundlage jedoch nötig ist. Indem Protestierende Gewalt anwenden, signalisieren sie: „Die Inhalte sind mir nicht wichtig, eigentlich will ich nur draufschlagen.“ Ihr Handeln wirkt affektgeleitet und primitiv. Die Politik sieht so keinen Grund, sich mit den Forderungen der Demonstrierenden auseinanderzusetzen.

Während rechtsmotivierte Ausschreitungen ihre Ursache in einem Weltbild finden, welches von Gewalt, Macht und der Klassifizierung von Menschen geprägt ist, so legitimieren Linksautonome ihre Taten mit Aussagen wie: „Wir denken, in einer unanständigen Gesellschaft ist es anständig, Steine zu werfen.“ Doch Gewalt ist niemals anständig, sei sie links- oder rechtsmotiviert. Denn wer einer anderen Person Gewalt antut, egal ob Polizist, Politiker, Ladenbesitzer oder Gegendemonstranten von nebenan, der spricht diesem seine Menschenwürde ab. Die Verantwortung für diese Tat liegt bei einem selbst und ist nicht gebunden an die Gesellschaft. Gleichzeitig formt jede persönliche Tat die Gesellschaft mit, sodass sich die Frage stellt, ob die Gewalt an Personen oder Gebäuden die Gesellschaft nicht unanständiger macht statt besser.

„Hass erzeugt Hass. Gewalt erzeugt Gewalt“, predigte Martin Luther King einst, inspiriert von den Schriften Gandhis vom gewaltfreien Widerstand und zivilen Ungehorsam. So ist es auch heute noch: Gewalt in Protesten ist weder gewinnbringend noch zielführend, sondern einfach nur Ausdruck von Hass, Unvermögen und Ignoranz.


Gewalt in Protesten? Ja, meint Paul

Stahnke_PaulFriedliche Proteste funktionieren. Als am 7. Oktober 1990 die DDR ihr 40-jähriges Bestehen feierte, protestierten zehntausende Menschen für Veränderung. Sie werden von VoPo und StaSi niedergeprügelt und inhaftiert. Zwei Tage später skandieren in Leipzig 130 000 Bürger der DDR: „Wir sind das Volk“, demonstrieren für ihre Rechte und einen Systemwechsel, begleitet von willkürlichen Festnahmen. Vier Wochen später demonstriert eine halbe Million Menschen, ganz Leipzig ist auf den Beinen. Tage später fällt im Zettelchaos Günther Schabowskis, auf Nachfrage des Bild-Reporters Peter Brinkmann, über Nacht die Mauer, die über 28 Jahre lang Deutschland teilte. Friedliche Proteste beenden so die deutsche Teilung, beenden einen ‚failing state‘, der eh schon palliativ behandelt wurde.

Am 14. Juli 1789 stürmen Revolutionäre die Bastille und beenden damit, vorerst, die französische Monarchie. Am 7. November 1917 endet das russische Zarenreich gewaltsam, am 7. Juli 1776 erklären die Amerikaner ihre Unabhängigkeit und dem Vereinigten Königreich damit den Krieg, im Iran erfolgt der gewaltsame Umsturz 1979, in Ägypten beginnt er am 25. Januar 2011, in Algerien schon 20 Tage vorher. Der Einzelne mag diese Umbrüche bewerten, wie er möchte, doch sie bringen alle weitreichende Veränderungen mit sich, keiner von ihnen geschieht friedlich, es wird Blut vergossen, das die neue Schöpfung tauft.

Es liegt in der Natur von Protesten und Revolutionen, dass Worte ihren Dienst versagen. Die Extreme des Spektrums sind Mahnwachen und Bürgerkriege, erstere sind von Natur aus still, letztere so laut, dass das einzelne Wort untergeht. Eine Kerze anzuzünden, ein Vaterunser zu sprechen und danach wieder RTL II zu glotzen ist nicht strafbar, tut nur den wahren Moralisten weh und ist harmlos. Geht man jedoch mit Baseballschläger und Molotowcocktail auf uniformierte Beamte oder Mitmenschen los, hört der Spaß schnell auf. Selbst Hooligans haben Regeln, beulen sich fernab von Menschenmengen. Gewaltsame Proteste, ob in Kiew oder Ferguson sind unvermeidlich und, finde ich, verständlich. Die Ohnmacht, die einen angesichts mancher Missstände ergreift, kann nicht von jedem in Worte gefasst werden, totalitäre Regimes interessieren sich nicht für ausgefeilte Glossen und gewiefte Reden, sie beherrschen diese Sprache nicht. Man kann eine Betonwand nicht kleinreden, man kann eine Betonwand aber zertrümmern. Dies zu bestrafen, Verstöße zu ahnden und Recht zu sprechen obliegt der Judikativen. Verstehen können sollten wir es alle.


Titelbild: flickr.com/photos/112078056@N07/ Credit: Sasha Maksymenko

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