Die Arbeit des Mädchenhauses Kiel

Die junge Frau mit Migrationshintergrund ist gerade mal 18 Jahre alt, als sie zum ersten Mal die Beratungsstätte des autonomen Mädchenhauses aufsucht. Grund dafür ist vermutlich körperliche Gewalt und die Flucht von zu Hause. Somit brachte man sie in eine Zufluchtsstätte. Außerdem ist sie zu dem Zeitpunkt schwanger gewesen. Das wollte sie nicht wahrhaben und ging leider sehr rücksichtslos mit ihrer Schwangerschaft um. Sie bekam ihr Kind nach dem Aufenthalt in der Zufluchtsstätte und gab es kurz darauf direkt in eine Pflegefamilie. Zwei Jahre später kam sie dann über eine Bildungsträgerin, die sich große Sorgen um die junge Frau machte, wieder zurück in die Beratungsstelle. Die junge Frau hatte ihr anvertraut, dass der Onkel, bei dem sie auch lebt, sie seit Jahren sexuell missbraucht hätte und auch für die Schwangerschaft verantwortlich sei. Sie wusste, ihr Onkel hatte etwas Unrechtes getan, aber um sich zu schützen, hatte sie alles verdrängt und realisierte erst jetzt, was wirklich geschehen war. Das Bewusstsein darüber brachte sie so weit, dass sie sogar konkrete Mordpläne gegen ihren Onkel entworfen hatte. Die Beraterin des Mädchenhauses musste ihr dann selbstverständlich ins Gewissen reden, ihr noch einmal genau vor Augen führen, was es für Folgen hätte, wenn sie ihre Pläne in die Tat umsetzen würde. Auch wenn ihre Reaktion emotional verständlich ist und das Mädchen sich sicher war, sich auf diese Art und Weise befreien zu können, so konnte dies nicht die richtige Lösung sein. Das Gespräch bewirkte etwas in ihr, sodass das Mädchenhaus in der Lage war, sie in ein Frauenhaus zu bringen, das sich in einem anderen Bundesland befindet. Die junge Frau sollte Abstand von ihrer vertrauten Umgebung gewinnen, ihrem Umfeld, einfach von allem. Von ihrem jüngeren Bruder wollte und konnte sie sich aber nicht trennen und überzeugte ihn, mit ihr zu kommen.

Wohin, wenn man von solchen Problemen umgeben ist? Wohin, wenn einem körperliche, psychische oder sogar sexuelle Gewalt droht oder man davon betroffen ist? Was soll man tun, wenn man es in den eigenen vier Wänden nicht mehr aushält und alleine mit den Problemen nicht mehr klar kommt? Dafür gründete man vor 33 Jahren den Trägerverein Lotta e.V., einen Verein für die Förderung emanzipatorischer Mädchenarbeit. Er entstand während der zweiten Frauenbewegung, bei der das Bewusstsein gegenüber jeglicher Art von Gewalt immer mehr zugenommen hatte. 1989 wurde dann die Anlauf- und Beratungsstelle in Gaarden gegründet, später zog sie dann in die Holtenauer Straße 127. Hier können sich Mädchen und junge Frauen im Alter zwischen 13 und 27 Jahren beraten und informieren lassen, wenn sie in Not sind. Auf Wunsch auch anonym.

Gewalt beginnt schon bei Beleidigungen und psychischem Druck, da die Mädchen beispielsweise in der Schule immer besser sein sollen. „Durchaus sind es nicht nur Familien wie der Klassiker Hartz IV, sondern viele gutsituierte bürgerliche Familien, die Erziehungsprobleme haben, in der Pubertät einfach nicht mehr weiter wissen“, so Susanne Eichler, eine der vielen Beraterinnen des multikulturellen Teams des Mädchenhauses. Es gibt auch junge Frauen mit Migrationshintergund, die unter verschiedenen Anforderungen, vor allem kulturellen Einflüssen, aufwachsen. Hierbei kann es sein, dass sie „eine Schande für die Familie zu werden drohen und die Familienehre auf dem Spiel steht“. Wenn man nicht weiß, ob diesen Mädchen Gewalt droht und man sogar damit rechnen muss, dass ältere Brüder eine Gefahr darstellen könnten, dann können diese Mädchen nicht mehr nach Hause zurück. Das ist leider das schwierigste Problem. Denn wenn ernstzunehmende Familiendrohungen vorliegen, lassen die Familien auch nicht mehr locker. Die Betroffenen werden dann komplett von ihrer Familie abgekapselt und in ein Mädchenhaus in einem anderen Bundesland gebracht. Allerdings müssen sie dazu auch erst bereit sein und das sind leider nicht viele. Denn laut Eichler sind Jugendliche mit 13, 14 Jahren emotional noch nicht zu solchen Schritten in der Lage. Dann müssen die Mädchen wieder zurück in die Familien. Da die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt sehr eng ist, kann man nur hoffen, dass es die Familien im Auge behält. Und falls doch wieder etwas vorfallen sollte, wissen die Mädchen ganz genau, dass sie wieder zurück zum Mädchenhaus kommen können. Auch wenn dies nicht der Fall ist, macht das Mädchenhaus den ersten Schritt und versucht, Zugang zu den Betroffenen zu bekommen. „Für Mädchen, die die Familie nur als elementaren Teil des Lebens kennen gelernt haben, ist es nochmal schwerer. Denn Familie ist alles! Ohne Familie bist du nichts!“, so Eichler.

Wenn es jungen Frauen unmöglich scheint, zu Hause oder bei ihrem Partner zu leben, dann kann übergangsweise eine Zufluchtsstätte angeboten werden. Die Zufluchtsstätte ist eine anonyme, vorrübergehende Wohneinrichtung, bei der nicht nur Mädchen und junge Frauen Obhut finden, die sich beim Mädchenhaus persönlich gemeldet haben sondern auch bei weiteren Stellen, wie zum Beispiel dem Jugendamt. Solange ein Mädchen nicht weiß, wo es unterkommen kann, bleibt es dort, selbst wenn es über längere Zeit sein muss. Andere Betroffene wiederum verlassen die Zufluchtsstätte bereits schon nach einem Tag wieder, da sie große Sehnsucht nach ihren Geschwistern haben. Auch wenn die Betreuer es nicht immer befürworten und die Mädchen tatkräftig mitberaten und unterstützen, zwingen sie sie nicht, dort zu bleiben, denn der Aufenthalt ist freiwillig. Bezahlt wird der Aufenthalt übrigens je Tagessatz vom Jugendamt. Der Ort der Zufluchtsstätte ist selbstverständlich geheim, da sonst kein Schutz geboten werden könnte. Auch die jungen Frauen, die aufgenommen werden, müssen versprechen, dass sie den Aufenthaltsort geheim halten. Vertraglich wird dies auch noch einmal bestätigt. Dieser Vertrag beinhaltet einerseits, was für die Mädchen getan wird, andererseits was sie im Gegenzug dafür erbringen müssen. Die wichtigsten Regeln sind: „Kein Alkohol! Keine Drogen! Keine Gewalt!“. Die Betreuer der Zufluchtsstätte versuchen den Mädchen einen geregelten Tagesablauf zu bieten, angefangen von einem Putzplan bis hin zur Jobsuche. Leider halten sich nicht immer alle an die Vereinbarungen. Dann muss die Zufluchtsstätte verlassen werden.

Das Mädchenhaus dient als eine Art Clearing- Stelle, das heißt, dass jede junge Frau diese Beratungsstelle aufsuchen kann, egal welche Probleme es hat. Es wird dann vor Ort entschieden, wer am besten weiterhelfen kann. Wenn es beispielsweise um häusliche Gewalt geht oder Probleme im Elternhaus vorhanden sind, ist es dort genau richtig. Ansonsten dient das Mädchenhaus als Vermittler an andere Hilfsstellen und arbeitet auch dementsprechend viel mit dem Jugendamt, der Polizei oder anderen Institutionen zusammen – es ist also eine Art Netz aus verschiedenen Organisationen. Die Mädchen können jederzeit ins Mädchenhaus kommen, außerhalb der Öffnungszeiten steht ihnen die Rufbereitschaft zur Verfügung. Meistens werden sowieso erwachsene Bezugspersonen im Umfeld auf die Mädchen aufmerksam, „Das sind meistens die Profis wie Lehrerin, Lehrer, Schulsozialarbeiterin, Schulsozialarbeiter, die natürlich von uns wissen.“, sagt Eichler. Diese sind dann quasi Vermittler zwischen den Mädchen und dem Mädchenhaus. „Das wichtigste ist aber, dass die Mädchen auch wollen und motiviert genug sind, herzukommen.“

Im letzten Jahr feierte das Autonome Mädchenhaus 25-jähriges Bestehen und man freute sich sehr, bekannte Gesichter wiederzusehen. „Das ist das, wovon wir, glaube ich wirklich, innerlich leben. Man kriegt ja oft nicht mit, was für einen Effekt die eigene Arbeit hat“, so Eichler. Nicht nur ehemalige Mitarbeiter des Teams, sondern auch viele junge Frauen kommen vorbei, um zu berichten, wie es ihnen heute ergeht. Solche Momente scheinen nicht nur für die Mitarbeiter von großer Bedeutung zu sein, sondern bestimmt auch für die Mädchen selbst. „Die Arbeit lohnt sich wirklich sehr und es bringt echt vielen was“, berichtet Eichler stolz. Und so soll es auch weiterhin bleiben!

Titelfoto: Autonomes Mädchenhaus Kiel oder: Lotta e.V.

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