Judith Holofernes
Titel: Ich bin das Chaos
Label: Embassy of Music/Warner
VÖ: 17. März 2017

In der Chaostheorie geht es um das zeitliche Verhalten von Systemen und deren deterministisch chaotische Dynamik. Bricht man diesen Umstand einmal runter, heißt das schlicht und weg, dass es unmöglich ist, eine Aktion noch einmal identisch zu wiederholen. Da ist eben das Chaos, das da im Weg steht und auch da steht Judith Holofernes, ihres Zeichens personifiziertes Chaos. Und genau so betitelt sie auch ihr nunmehr zweites Soloalbum: Ich bin das Chaos. Der Titel ist Programm, denn glattgebügelt, entwirrt oder systematisch ist diese Platte keinesfalls.

Der Opener Der letzte Optimist startet zwar melancholisch, trotzt aber nur so vor ironischen Bemerkungen und schafft es so auch, nicht in die Gefälligkeit abzurutschen. Das Pianostück und die fast schon gebrochene Stimme bilden eine wunderschöne Symbiose. Bei Analogpunk fühlen sich Fans der Holofern’schen Musik vielleicht an ihre alten Zeiten bei den Helden erinnert, sowohl durch die musikalische Untermalung als auch die textliche Umsetzung: „Ich Pop-Up, du Pin-Up, ich Hotspot, du Foxtrott, ich Memo, du Demo, ich Half-Life, du Half-Pipe, ich: Troll! Du: toll!“

Bei Leiden der jungen Lisa plädiert Holofernes für den bewussten Aktivismus, um dem tristen Alltag zu entkommen, anstatt in Selbstmitleid, Affektiertheit und Passivität zu verharren: „Und Lisa, ich will gar nicht lang stör’n / Aber Lisa, wir lieben dich. Und ach, wir wollen’s echt nicht mehr hör’n!“ Das zarte Stimmchen der Sängerin traut sich langsam hauchend in den Vordergrund, das mit einer minimalistischen musikalischen Untermalung unterstützt wird. Holofernes schafft es ganz besonders in diesem Stück, alltägliche Beobachtungen einzufangen und gesanglich spielerisch darzubieten.

Das musikalische Arrangement der Ballade Unverschämtes Glück erinnert ein wenig an den Wilden Westen und dessen typische Saloon-Musik. Holofernes wird von Bläsern begleitet und singt von alltäglichen Glücksmomenten und dummen Zufällen: „Da lief sicher etwas schief / Da kommt sicher bald ein Brief / Weil der Mensch an der Vergabestelle schlief / Ganz fest und tief, gerade als mein Verfahren lief.“ Mit einer turbulenten Mischung aus Melancholie, Witz und Ironie ist Ich bin das Chaos wesentlich facettenreicher als ihr Vorgängeralbum. Mit experimentierfreudigen Texten und originellen Melodien, die nicht immer dem festen, musikalischen Harmonieanspruch folgen, versucht Holofernes eine kleine Variation an intelligenten Antworten für den tieferen Sinn des Lebens zu liefern. Diese Platte hebt sich definitiv von der derzeitigen Popmusik ab, da die Stücke ihren eigenen, fast eigenwilligen Mustern folgen, weit ab von Mainstream-Poesie à la Tim Benzko oder Max Giesinger. Holofernes‘ Chaos wird auch nach mehreren Durchgängen nicht langweilig, sondern bleibt gerade durch die verschiedensten, musikalischen Nuancen stets faszinierend-chaotisch. Sie liebt dieses Leben und genau diese Gesinnung lässt sich in jedem Song erkennen.

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