von Rebecca Such und Johanna Touoda

Ein Gerichtsprozess erschüttert die Gehörlosengemeinschaft

In Niedersachsen findet momentan ein Gerichtsprozess statt, den viele für unmöglich gehalten hätten. Die Eltern eines kleinen Jungen wollten ihren Sohn im Kindergarten anmelden. Damit der Kleine, der gehörlos ist, eine spezielle Förderung erhält, wurden die Eltern für eine ärztliche Bestätigung des Hörschadens an das Städtische Klinikum in Braunschweig verwiesen. Im August stand die endgültige Diagnose und die Ärzte rieten zu einem Cochlea-Implantat (CI). Die Eltern, selbst gehörlos und schwerhörig, lehnten diese Maßnahme jedoch von Anfang an ab. Schnell eskalierte das Gespräch zwischen dem Krankenhaus und der Familie. Das Klinikum, das in der Ablehnung des aus seiner Sicht notwendigen Eingriffs Kindeswohlgefährdung sah, alarmierte im Oktober das Jugendamt. Mit dem Ziel, eine Zwangsimplantation bei dem Jungen zu erwirken, brachte es den Fall im November vor das Familiengericht in Goslar.

Anders als bei einem Hörgerät, das extern angebracht ist und als schallverstärkende Hörhilfe fungiert, handelt es sich beim CI um eine Hörprothese. Diese stimuliert mithilfe von elektrischen Impulsen den Hörnerv und sendet so Audiosignale an das Gehirn. Dementsprechend kommt ein CI nur für gehörlose Patienten in Frage, deren Hörnerv noch funktionsfähig ist. Es kann sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen eingesetzt werden. Allerdings gilt: Je früher implantiert wird, desto erfolgsversprechender verläuft die Sprachentwicklung. Daher wird meist empfohlen, bereits im frühen Kindesalter zu implantieren. Bei Erwachsenen sollte die Ertaubung für ein gutes Ergebnis bestenfalls nach dem Spracherwerb erfolgt sein.

Zu den positiven Aspekten des CI gehört, dass Kinder, je nachdem wann das CI implantiert wurde, die Möglichkeit eines annähernd ’normalen‘ Spracherwerbs erhalten und einen Alltag mit weniger zusätzlicher Hilfe. Ganz allgemein ermöglicht es seinen Trägern die Wahrnehmung von Geräuschen und Alarmsignalen, was mehr Sicherheit im Alltag bedeuten kann.

Zu den Nachteilen der elektronischen Prothese zählt zum Beispiel, dass sie vor Wasser geschützt werden und bei bestimmten medizinischen Untersuchungen oder Behandlungen, beispielsweise einem MRT oder einer Strahlentherapie, im Vorfeld entfernt werden muss. Die potentiellen Risiken bei dieser Gehirnoperation sowie die Tatsache, dass es sich dabei um einen invasiven Eingriff handelt, bei dem in den Schädelknochen gefräst wird, sind ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Ambivalent zu betrachten sind außerdem die einzelnen in der Praxis erzielbaren Erfolge beim Thema Hörverstehens- und Sprachverständnis, die stark variieren und vorher nicht abzusehen sind.

cochleaAbgesehen vom medizinischen Geschehen, dürfen die psycho-sozialen Folgen des CI nicht außer Acht gelassen werden. Nach der OP sind CI-Patienten auf eine lebenslange und individuelle Nachsorge sowie ein spezielles Training angewiesen, bei dem Hören und Sprechen erst (wieder) erlernt werden müssen. Die Umgewöhnung sowie der äußere und innere Erwartungsdruck können dazu führen, dass sich Betroffene weder der Welt der Gehörlosen noch der der Hörenden zugehörig fühlen und dadurch Identitätsprobleme entstehen. Dabei ist einer der wohl wichtigsten Faktoren die Familie und der Freundeskreis, die dem Betroffenen unterstützend zur Seite stehen sollten und eine lebenslange Nachsorge mittragen müssen. Letztendlich hängt der Erfolg des Implantats von einem Zusammenspiel verschiedener sozialer, psychischer und medizinischer Aspekte ab.

Der Prozess vor dem Familiengericht in Niedersachsen findet in der hörenden Gemeinschaft wenig Beachtung, in der Gehörlosengemeinschaft wird er umso schockierter verfolgt. „Die Gehörlosengemeinschaft ist natürlich in heller Aufruhr“, berichtet Cortina Bittner, die selber gehörlos ist und als Geschäftsführerin dem Gehörlosen-Verband Schleswig-Holstein vorsteht. „Es gibt nicht wenige, die sich jetzt an die Zwangssterilisation gehörloser Menschen im Nationalsozialismus erinnert fühlen. Die Sorge um die Schaffung eines Präzedenzfalls besteht ganz massiv.“ Im Falle einer Entscheidung zugunsten der Implantation würde es auf jeden Fall in die nächste Instanz gehen, da ist sich Bittner sicher.

Von verschiedenen Seiten gibt es nun Stellungnahmen, denen alle eine ablehnende Haltung gegenüber der Zwangsimplantation gemein ist. Der Deutsche Gehörlosen-Bund, der als Dachverband und politisches Sprachrohr fungiert, verurteilt das mögliche Vorgehen als inakzeptabel und selbst die Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft titelt: „Eine CI-Implantation ohne Zustimmung der Eltern ist strikt abzulehnen!“

Begriffe wie Kindeswohl, Elternrecht und Selbstbestimmung fallen im Zusammenhang mit dem Prozess immer wieder und die Frage kommt auf, was im Namen der Medizin (nicht) passieren darf. In Artikel 3 der UN-Behindertenrechtskonvention, die im Mai 2008 in Kraft trat, wird „die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit“ garantiert. Das Verhalten des Krankenhauses und Jugendamtes lässt nicht unbedingt die geforderte positive Wertschätzung von Gehörlosigkeit erkennen. „Es wird dauernd gesagt, dass man dem Kind doch bessere Entwicklungschancen geben müsste. Da denke ich mir nur: ‚Hallo?!‘ Warum kann man nicht sehen, dass ein gehörloses Kind auch auf anderen Wegen gute Chancen hat? Warum versteift man sich auf diese Operationsmethode? Das ist für uns eine sehr eindimensionale Sichtweise, die wir gar nicht nachvollziehen können“, empört sich Bittner.

Ein grundlegendes Problem bei diesem Fall sind auch die beiden Perspektiven, aus denen er betrachtet wird. Das Krankenhaus und Jugendamt sehen ihre Aufgabe darin, einem behinderten Kind ein möglichst ’normales‘ Leben zu ermöglichen. In der Gehörlosengemeinschaft verstehen die Menschen sich jedoch häufig nicht als behindert oder gar ‚reparierbedürftig‘, sondern nehmen die Gehörlosigkeit als Teil ihrer selbst wahr.

Die Entscheidung in diesem heiklen Fall liegt nun bei der zuständigen Richterin, die erst einmal weitere Gutachten angefordert hat. „Es geht letztendlich um einen nicht lebensnotwendigen Eingriff in einen unversehrten Körper bei einem kleinen, schutzbedürftigen Kind“, gibt Bittner abschließend zu bedenken.


Titelbild: Max Pixel

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