In einem Bücherregal in meinem alten Kinderzimmer steht ein besonderes Buch. Dieses Buch hat einen blauen Umschlag, der an einigen Stellen schon etwas mitgenommen ist, sodass teilweise das ursprünglich gelbe Buch hervorscheint. Vorne auf dem Umschlag ist ein junges Mädchen mit feuerroten Zöpfen, unzähligen Sommersprossen und bunten Kniestrümpfen zu sehen. Warum dieses Buch besonders ist? Nun, es erzählt die Geschichte von Pippi Langstrumpf, eine der vermutlich größten Heldinnen vieler Kinder.

Was die neunjährige Pippi zu einem so außergewöhnlichen Menschen macht, ist neben ihrer übermenschlichen Stärke – sie kann ihr Pferd samt ihren Freunden Tommy und Annika hoch in die Luft heben – auch ihre lustige, mutige und großzügige Art. Ebenfalls weist sie eine gewisse Immunität gegenüber Autoritäten auf. „Ich finde, du bist auch gerade nicht so bildschön, dass man vor Entzücken hochspringt, wenn man dich sieht“, kontert Pippi, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, denn sie wurde zuvor von einem feinen Herrn als „das hässlichste Balg, das er je gesehen hat“ beschimpft.

Das Mädchen mit den viel zu großen Schuhen, das mit vollständigem Namen eigentlich Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf heißt, wohnt in einem alten Haus – der Villa Kunterbunt. Dort lebt sie zusammen mit dem kleinen Affen Herr Nilsson und ihrem Pferd Kleiner Onkel. Ihre Mutter ist bereits gestorben als Pippi noch sehr klein war und ihr Vater, Efraim Langstrumpf, segelt als Kapitän durch die Südsee. Pippi erzählt jedem, dass er der Südseekönig des Taka-Tuka-Landes ist. Dank eines Handkoffers voller Goldstücke, den sie von ihrem Vater bekommen hat, ist Pippi finanziell unabhängig und kann tun und lassen, was sie möchte.

Ein Privileg, das ich als Kind besonders dann bewunderte, wenn meine Eltern mir verboten haben, weitere Süßigkeiten zu essen oder das Taschengeld nicht mehr für das begehrte Spielzeug reichte. Doch dann wurde mir auch klar, dass es durchaus schön ist, eine Familie zu haben, die da ist und sich um einen kümmert. Komplett alleine in einem so großen Haus zu wohnen, kann schließlich auch ziemlich unheimlich werden.
Doch zum Glück ist Pippi nicht ganz alleine, denn direkt nebenan wohnen ihre besten Freunde, die Geschwister Tommy und Annika Settergren, zwei artige Kinder, die Pippi auf ihre Abenteuer begleiten. Denn Pippi steckt voller Ideen und so ist immer etwas los. Auch wenn ihre Erlebnisse, von denen sie ihren Freunden erzählt, nicht immer ganz der Wahrheit entsprechen. Denn hin und wieder vergisst sie, dass „Lügen hässlich ist“, wie Annika es erklärt, und erzählt beispielsweise Geschichten davon, dass alle Menschen in Ägypten ausschließlich rückwärts laufen und in Hinterindien sogar nur auf den Händen.

Das Mädchen mit den abstehenden Zöpfen hat viele Flausen im Kopf: Sie legt sich mit Polizisten oder Dieben an, ärgert die Lehrerin – denn „Plutimikation“ ist einfach nicht ihr Ding – und fürs Putzen schnallt sie sich die Bürsten direkt unter die Füße und schlittert mit ihnen wie auf Schlittschuhen durch das Haus.

Astrid Lindgren, die ursprünglich nicht vorhatte, Schriftstellerin zu werden, schuf mit Pippi Langstrumpf ihre wohl berühmteste Figur und ein erfolgreiches Debütwerk. Entstanden ist die Geschichte 1941, als Lindgren ihrer damals kranken Tochter Karin von dem aufgeweckten Mädchen erzählte. Den Namen „Pippi Langstrumpf“ hat sich dabei Karin selbst ausgedacht. Drei Jahre später schrieb Lindgren die Geschichte auf und gewann sogar den ersten Platz in einem Kinderbuch-Wettbewerb des Verlages Rabén & Sjören. Darauf folgte im Herbst 1945 die Veröffentlichung des Werkes in Schweden. In Deutschland kamen die Bücher vier Jahre später in die Buchhandlungen.

Die Ideen für Pippis Geschichten basieren teilweise auch auf Lindgrens Kindheitserlebnissen. So auch das Spiel „Nicht den Boden berühren“ oder der Limonadenbaum. „‚Das Beste an dem Baum ist, dass in seinem Inneren jede Menge Limonade wächst‘, sagt Pippi Langstrumpf. ‚Es handelt sich nämlich bei weitem nicht um einen gewöhnlichen Baum, sondern um einen Limonadenbaum!‘“ Die anschließend leeren Flaschen sollen nach Pippi praktischerweise einfach verwelken. Neben Limonade wächst auch Schokolade an diesem Baum – allerdings nur donnerstags.

Aufgrund dieser außergewöhnlichen Erlebnisse ist es gut zu verstehen, dass Pippi nicht erwachsen werden will. „Im Herbst werde ich zehn Jahre alt und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich.“ Doch Pippi weiß sich zu helfen, denn was Tommy fälschlicherweise für Erbsen hält, sind eigentlich sogenannte Krummuluspillen, die das Großwerden verhindern. „Aber man muss sie im Dunklen essen, und dann muss man dazu sagen: Liebe kleine Krummelus, niemals will ich werden ‚gruß‘ Dabei ist ‚gruß‘ gerade der Kniff, denn wenn man versehentlich ‚groß‘ sagt, hört man gar nicht mehr auf zu wachsen“, erklärt Pippi ihren Freunden.

Und indem Pippi damit die Möglichkeit bietet, für immer Kind zu bleiben, ist sie auch heute noch für viele eine der größten Heldinnen. Auch ich war als kleines Mädchen darüber erfreut, nicht irgendwann das triste Leben eines Erwachsenen führen zu müssen und konnte mich mit dieser Gewissheit beruhigt schlafen legen. Natürlich auf die einzig richtige Pippi-Art: mit den Füßen auf dem Kopfkissen und dem Kopf tief unter der Decke, und mit den Zehen wackeln nicht vergessen!

Autor*in

Johanna studiert seit dem Wintersemester 2016/17 Deutsch und Soziologie an der CAU. Sie ist seit Oktober 2016 Teil der ALBRECHT-Redaktion. Von Juli 2017 bis Januar 2019 war sie als Ressortleiterin für die Kultur verantwortlich. Sie war von Februar 2019 bis Januar 2022 Chefredakteurin des ALBRECHT.

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