In ihrem ersten Roman erzählt Emmanuelle Pirotte die Geschichte von einem jüdischen Mädchen und einem deutschen Soldaten

Dezember 1944. Eine Bauernfamilie sitzt gemeinsam beim Essen in einem bereits Monate zuvor befreiten Dorf in den Ardennen, als laute Stimmen und Geschrei von der Straße zu ihnen heraufdringen und die Rückkehr der Deutschen ankündigen. Mit diesem rasanten Einstieg ist der Leser sofort mitten im Geschehen des ersten Romans der französischen Autorin Emmanuelle Pirotte Heute leben wir.

Die erneute Anwesenheit der Deutschen zwingt die Familie zu einer Entscheidung: Renée, das kleine jüdische Mädchen in der Obhut der Familie, muss in Sicherheit gebracht werden. Der Vater bringt sie zum Pfarrer, doch auch dort droht Gefahr. Als rettende Lösung erscheint ein amerikanischer Jeep – kurzerhand setzt der Pfarrer sie in den Wagen der zwei vermeintlichen Alliierten, die sich aber als Deutsche herausstellen. Aufgrund ihrer Erfahrungen weiß Renée, dass die Deutschen eine Gefahr für sie sind. Sie halten an einem Weg und führen Renée in einen Wald hinein. Einer der Soldaten  richtet die Waffe auf den Kopf des Kindes, es dreht sich unbeirrt zu ihm um und blickt ihn an, er zieht den Abzug und schießt. Der leblose Körper, der im Schnee liegt, ist jedoch nicht der des Mädchens.

Quelle: S. Fischer Verlag
Insipration der französischen Autorin: Ihre Großeltern versteckten im Zweiten Weltkrieg selbst ein jüdisches Mädchen bei sich // Quelle: S. Fischer Verlag

Dieses Ereignis ist der Beginn einer paradox wirkenden Beziehung zwischen dem SS-Offizier Matthias und dem verwaisten jüdischen Mädchen. Die Perspektive des auktorialen Erzählers wechselt fließend zwischen den Sichtweisen der einzelnen Personen, sodass der Leser Situationen nicht nur aus einem Blickwinkel erfährt, sondern einen tiefen Einblick in die Gefühle beider Hauptcharaktere bekommt. So zeigt Pirotte, wie sich beide Charaktere im Laufe der Handlung verändern.

Renée wird als ein starkes und tapferes Mädchen beschrieben, das trotz der Kriegsereignisse und des Verlustes der Familie nicht eingeschüchtert ist. Die Spuren des Krieges lassen sich vor allem an ihrem Verhalten erkennen, denn sie ist sehr auf ihre eigenen Instinkte fokussiert, wachsam und darauf bedacht, nicht aufzufallen. Trotz dieser Eigenschaften schafft es die Autorin in einigen Situationen die Angst zum Vorschein kommen zu lassen, sodass die Figur des Kindes glaubhaft und authentisch wirkt. Der Offizier Matthias durchlebt einen starken, von Renée ausgelösten, Wandel. Vom regimetreuen Soldaten wird er zum Kritiker der Kriegsgeschehnisse. Er zeigt sich zwiegespalten zwischen seiner alten Identität und der Wandlung, die ihn zu Beginn verunsichert.

Pirotte fesselt den Leser von der ersten bis zur letzten Seite an die Geschichte – von Beginn an lässt sie ihn direkt am Geschehen, den Protagonisten und deren verschiedenen Perspektiven teilhaben. Im Fokus stehen die schwierigen Lebensumstände im Krieg, die Identitätskrise des Soldaten und dem Unverständnis Renées, was an ihrer Abstammung falsch zu sein scheint. Eindrucksvoll ist dabei, wie sie erst in Gesellschaft des deutschen Soldaten vergessen kann, dass sie Jüdin ist.

Wer ein spannendes, gut geschriebenes und gefühlsgeladenes Buch sucht, das den Leser in die letzten Monate des Krieges hineinversetzt, dem sei Heute leben wir eine Empfehlung.


Titelbild: Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlag

Autor*in

Judith ist seit April 2015 beim ALBRECHT. Sie studiert Deutsch und Geschichte auf Fachergänzung seit dem Wintersemester 2013/14.
Sie leitet das Lektorat des ALBRECHTS.

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