TYLL - ROWOHLT VERLAGNimmt man es hin, dass Alexander von Humboldt in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt Bezug auf die erst nach seinem Ableben aufkommende Evolutionstheorie Bezug nimmt, so erscheint die Grundannahme, die Daniel Kehlmann in seinem zweiten pseudohistorischen Roman voraussetzt, durchaus logisch. Der mittelalterliche Schalk Tyll Ulenspiegel wird aus dem 14. ins 17. Jahrhundert versetzt und nimmt die ihm von Charles de Coster angedichtete Teilnahme an einem Religionskonflikt einfach aus dem 80-jährigen Krieg zwischen Flamen und Spaniern mit in den Dreißigjährigen Krieg. Warum denn auch nicht? Der historische Roman als eigene Gattung nahm es noch nie besonders genau mit bestimmten Fakten. Weder Döblin, noch Schiller oder Goethe halten sich in ihren Werken peinlich genau an historische Fakten, Herodot oder Homer erheben den Anspruch von Geschichtsschreibung, werden ihm aber nicht gerecht, Kehlmann oder auch Kracht spielen einfach mit Fakten, die für den einzelnen Leser nicht einmal als fiktional oder fiktiv erkennbar sind.

Kehlmann alterniert in der Erzählung zwischen Episoden aus dem Leben des Tyll Ulenspiegel und der Geschichte um den Winterkönig Friedrich V. und seine Gemahlin Elisabeth Stuart. Die Teile, in denen Tyll Ulenspiegel zum Akteur wird, werden jedoch nicht aus der Sicht Ulenspiegels erzählt, sondern aus der Sicht anderer Beteiligter. So gewinnt die geheimnisvolle Gestalt des Schalks eine weitere Ebene der Mystik, welche ohne die durch die Erzählperspektive gewonnene Distanz nicht halb so wirkmächtig wäre.

Am Anfang des Romans tritt Ulenspiegel in einem Dorf in Erscheinung. Er fährt mit seiner ‚Schwester‘ Nele, einer alten Frau und einem ‚sprechenden‘ Esel durch die Lande und führt allerlei Kunststücke auf, spielt Theater und gibt Lieder zum Besten. Die Dorfgemeinschaft zieht er so fast vollständig in seinen Bann, adaptiert Romeo und Julia, singt über den Krieg und balanciert schließlich auf einem Seil, nur um über Zuschauerbeteiligung Zwietracht im Dorf zu streuen und sich dann aus dem Staub zu machen. Eine exemplarische Vorgehensweise für Ulenspiegel, dessen Vater, wie als Vorbote des Religionskrieges, mit der Kirche in Konflikt gerät und den jungen Tyll so zur Flucht zwingt.

Auf der anderen Seite steht das Königspaar, das durch ihr Fehlverhalten den Krieg überhaupt erst ausgelöst hat und nun exiliert ist. Auf der Reise trifft Tyll auch auf Paul Fleming, der die wahnwitzige Idee hat, auf Deutsch zu schreiben in einer Welt, in der diese Sprache nur gesprochen wird. Viele kleine wie große Nebenfiguren werden immer wieder in die Erzählung eingeflochten und erweitern so die Welt Kehlmanns in ihrer Detailfülle. Eine Welt, die mittelalterlich und modern zugleich erscheint, in der Gegensätze offenbart werden, die auch heute noch präsent sind. Religionskriege sind wieder in Mode, Aberglaube auch.
Tyll, knapp unter 500 Seiten stark, strickt sich also die Geschichte des Tyll Ulenspiegel als Faser des

Dreißigjährigen Krieges und verwebt den Stoff mit künstlerischer Freiheit, realen geschichtlichen Persönlichkeiten und der Darstellung des prägenden Konfliktes der frühen Neuzeit. Immer wieder spielt Kehlmann mit dem offensichtlichen Betrug, lässt den Erzähler erfundene Elemente frei zugeben und stellt damit die Authentizität der im Grunde unauthentisch erzählten Begebenheiten in Frage. Ähnlich arbeitete schon Die Vermessung der Welt, in der falsche Zitate und historische Unwahrheiten propagiert werden; Tyll treibt es nun auf die Spitze. An der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, Aberglaube und Wissenschaft, treibt eine mehr legendäre denn reale Figur ihr um drei Jahrhunderte nach hinten verlegtes Unwesen und lässt Kehlmann Raum für das, was er am Besten kann: erzählen, verwirren, erfinden sowie begeistern. Der Roman als solcher bietet nichts bahnbrechend Neues, die Taktiken und Systeme sind schon von anderen Autoren wie Umberto Eco oder Kehlmann selbst angewendet worden. Auch an die Verschachtelung von Ruhm, Kehlmanns eigenem Meisterstück der Täuschung und Vielschichtigkeit, vermag Tyll nicht heranzureichen. Nichtsdestotrotz gelingt Daniel Kehlmann mit Tyll ein großartiges Buch, das es sich zu lesen lohnt.


Bild: Mit freundlicher Genehmigung vom ROWOHLT VERLAG

Autor*in

Paul war seit Ende 2012 Teil der Redaktion. Neben der Gestaltung des Layouts schrieb Paul gerne Kommentare und ließ die Weltöffentlichkeit an seiner Meinung teilhaben. In seiner Freizeit studierte Paul Deutsch und Anglistik an der CAU.

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