Interview mit Prof. Vakhonieva über Flucht, Krieg und ihr Leben in Kiel

Vor rund acht Monaten wurde die Ukraine von Russland überfallen. Auch wenn der Konflikt seit 2014 besteht, kann man wohl sagen, dass mit der russischen Invasion Europa den ersten Angriffskrieg erlebt, seit Hitlers Armeen im vorherigen Jahrhundert den Kontinent in Schutt und Asche legten. Unzählige Ukrainer:innen mussten aus ihrer Heimat fliehen. Allein in Deutschland wurden bis zum 10. Oktober 2022 knapp über eine Millionen Menschen aufgenommen. Eine davon ist Prof. Dr. Tetiana Vakhonieva. Frau Vakhonieva ist Juristin mit den Schwerpunkten Zivilrecht, geistiges Eigentum, Arbeitsrecht und Sozialrecht. Die letzten acht Jahre hat sie am Lehrstuhl für Arbeits- und Sozialrecht der Nationalen Taras-Shevchenko-Universität in Kiew gearbeitet. Dann kam der Krieg. Nun ist sie in Kiel untergekommen. Ich treffe Frau Vakhonieva Mitte Oktober am Institut für Osteuropäisches Recht. Das Gespräch findet auf Russisch statt und wird von dem wissenschaftlichen Mitarbeiter und Habilitand Dr. Nazar Panych übersetzt.  

DER ALBRECHT: Frau Vakhonieva, wie geht es Ihnen heute?  

Dank der Hilfe Deutschlands geht es mir einigermaßen normal. Wir sind hier Geflüchtete und ich gehe davon aus, dass alle wissen, warum. Mein Wohnort in der Ukraine wurde zu einem Schlachtfeld, daher war ich gezwungen, zu fliehen.  

Was beschäftigt Sie gerade am meisten? 

Selbstverständlich der Krieg. Ich sehne mich nach Frieden und danach, in meine Heimat zurückzukehren. Durch die Flucht haben wir verstanden, wie wunderschön sie vorher war. 

Am 24. Februar sei Europa in einer anderen Welt aufgewacht, so die deutsche Außenministerin. Wie haben Sie diesen Tag persönlich erlebt?  

Mein Morgen in Tschernihiv hat mit einem Bombardement begonnen. Wir wurden zwar vor dem Krieg gewarnt, haben aber trotzdem gehofft, dass es nicht so weit käme. Ich glaube, vielen in Europa ist bis heute nicht klar, wie schrecklich dieser Krieg ist. Gegen fünf Uhr morgens wurden Wohnhäuser bombardiert, ich habe erschossene Menschen auf der Straße liegen sehen, ein schrecklicher Anblick. Mein Wohnhaus ist teilweise zerstört worden.  

Heißt das, Sie mussten in den ersten Stunden des Krieges fliehen?  

Nein, die ersten zehn Tage habe ich mich in einem Keller versteckt. In ganz Tschernihiv gab es keinen sicheren Aufenthaltsort. Wir wurden einen Monat lang belagert.  

Und wie ist Ihre Flucht zustandegekommen?  

Mein Ehemann, mein Sohn und ich sind mit dem Auto über Landstraßen geflohen. Viele wurden auf der Flucht jedoch erschossen. Nach fünf Tagen haben wir die Westukraine erreicht. Nach weiteren vier Tagen sind wir in Kiel angekommen.  

Musste Ihr Ehemann an der Grenze wieder zurückkehren?  

Ja. Er hält sich wieder in Tschernihiv auf. Die Stadt ist nicht mehr belagert, aber es gibt keinen Strom und kein Wasser. Es ging darum, unser Kind zu retten. Ich bin mit meinem fünfzehnjährigen Sohn hierhergekommen.  

Können Sie Ihre Eindrücke aus den ersten Tagen des Krieges schildern? 

Es war ein Schock. Wir hätten nie gedacht, dass es so früh zu so einer schrecklichen Kriegsführung käme, mit Bombardierungen und Erschießungen. Nach fünf Tagen gab es weder Wasser, Strom, noch Lebensmittel. Und es war sehr kalt. Wir empfanden ein Gefühl der Ausweglosigkeit und der Ungerechtigkeit, da wir angegriffen wurden, obwohl wir nichts getan haben. Alle Gründe für den Krieg, die Russland im Ausland verbreitet, stimmen nicht. Die Ukraine ist reich an Ressourcen. Wegen dieser Ressourcen wurde der Krieg begonnen.  

Wie sind Sie in Deutschland gelandet?  

Vor vier Jahren habe ich bei Prof. Trunk eine Tagung hier besucht. Nachdem ich die Grenze überquert hatte, habe ich alle angerufen, die ich kannte. Prof. Trunk hat sich sofort bereiterklärt, mir zu helfen.  

Wo sind Sie gerade untergekommen? 

In einer kleinen Wohnung in Kiel. 

Hat Prof. Trunk Ihnen diese Bleibe organisiert?  

Ja. Prof. Trunk hat mich am Tag meiner Anreise in Kiel abgeholt und mir eine Bleibe und die Anstellung am Institut organisiert. Nazar Panych hilft mir auch mal mit Dokumenten. Außerdem gibt es viele Ukrainer:innen und tatsächlich auch Russ:innen, die uns helfen.  

Wie sieht Ihr Alltag in Kiel gerade aus? 

Ich lehre weiterhin an der Taras-Shevchenko-Universität. Außerdem muss ich Alltägliches bewältigen, zum Beispiel in Behörden Schlange stehen. Dazu kommt mein Sohn. Ich besuche einen Integrationskurs und lerne Deutsch. Das größte Problem ist die fehlende Sprache. Für alles brauche ich einen Dolmetscher. 

Wie geht Ihr Sohn mit dieser Situation um?   

Ihm fällt das alles leichter. Er lernt die Sprache schneller und fühlt sich hier wohl. Er besucht eine deutsche Schule und nimmt gleichzeitig online an ukrainischen Schulstunden teil. 

Fühlen Sie sich aufgrund der Sprachbarriere manchmal einsam?  

Da viele Ukrainer:innen hier sind, hält sich das in Grenzen. Aber in einem fremden Land fühlt man sich meistens ein bisschen einsam. Ich würde mich gerne auf Deutsch mit den Menschen hier unterhalten und über meine Situation berichten. Die allermeisten hier sind sehr hilfsbereit. Aber fürs Arbeiten muss man einfach Deutsch können.  

Gelingt es Ihnen, nicht dauernd an den Krieg zu denken? 

Ich denke jede Minute daran. Alle Ukrainer:innen tun das.  

Bei einem kürzlichen Angriff auf Kiew ist eine Rakete nahe der Universitätsbibliothek eingeschlagen. Können Sie beschreiben, wie Ihre Kolleg:innen mit dieser Gefahr umgehen?  

Die meisten meiner Kolleg:innen arbeiten online. Diese Rakete ist übrigens auf der Kreuzung eingeschlagen, die ich sonst jeden Tag überquere. Mein Institut hat jetzt keine Fenster mehr. Sie sind bei der Explosion gebrochen. Der Staat gibt sich schon Mühe, die Menschen zu schützen. Aber da die Sirenen so häufig heulen, sind einige Menschen müde geworden, jedes Mal Schutz zu suchen.  

Nach der Annexion der besetzten Gebiete hat Selenskyj gesagt, dass damit Friedensverhandlungen unmöglich geworden seien. Denken Sie, dass nur eine militärische Rückeroberung den Krieg beenden kann? 

Putin lügt andauernd. Wir können ihm nicht glauben. Keine Verhandlungslösung mit ihm kann der Ukraine die Sicherheit geben, dass der Krieg nicht in ein, zwei Jahren wieder ausbricht. Er begeht einen Genozid an unserem Volk.  

Sollte Europa russische Kriegsdienstverweigerer aufnehmen? 

Eine schwierige Frage. Ich denke, es gibt Russ:innen, die tatsächlich gegen den Krieg sind. Möglicherweise sollten sie aufgenommen werden. Andererseits gibt es Russen, die für den Krieg sind, sich in Europa aber trotzdem vor dem Militärdienst verstecken.  

Der ukrainische Botschafter Andreij Melnyk wurde abberufen, nachdem er in einem Interview den Nationalisten und Antisemiten Stepan Bandera verteidigte. Können Sie beschreiben, welche Rolle Bandera im Selbstverständnis der Ukraine spielt?  

Im Osten der Ukraine spielt Bandera keine große Rolle, eher im Westen. Das liegt daran, dass der Westen mehr unter der sowjetischen Herrschaft gelitten hat. Heute gibt es Teile der Bevölkerung, die ihn zu einem Vorbild idealisieren, das machen aber nicht alle. Daher würde ich nicht sagen, dass Melnyks Äußerungen eine allgemeine Stimmung widerspiegeln.  

Reden wir über die Rolle Deutschlands in diesem Krieg. In der internationalen Presse wird Deutschland dafür kritisiert, nicht entschlossen genug zu sein. Empfinden Sie die deutsche Außenpolitik als zu zögerlich?  

Es ist nicht an mir, die deutsche Regierung zu kritisieren. Ich bin Ukrainerin, ich kritisiere die ukrainische Regierung und das auch gerne. Da Sie aber fragen, würde ich weniger Scholz, sondern eher Merkel kritisieren. Russland hat Deutschland dazu bewegt, von russischem Gas abhängig zu werden. Olaf Scholz muss jetzt mit den Konsequenzen kämpfen. Ob er das Richtige tut, wird die Zukunft zeigen. Eines muss Deutschland und Europa jedoch verstehen: Wenn die Ukraine verliert, wird Russland weitere Länder angreifen.  

Seit dem Zweiten Weltkrieg achtet Deutschland darauf, nicht als Großmacht aufzutreten. Nun fordern verschiedene europäische Stimmen, Deutschland solle mehr Führungsstärke zeigen. Finden Sie als Ukrainerin, Deutschland sollte diese Rolle wahrnehmen?  

Das liegt daran, dass Deutschland eines der entwickeltesten Länder Europas ist und wirtschaftliche Macht hat. Es hat nach der Niederlage einen hohen Preis bezahlt und hält sich nun an bestimmte Werte. Alle europäischen Länder sollten diese Werte verteidigen, sonst verlieren wir das Europa, das wir kennen. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?

Natürlich.  

Was halten Sie von der Niederlage im Zweiten Weltkrieg? Empfinden Sie Schuld? 

Deutschland hat den schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte vom Zaun gebrochen und einen beispiellosen Genozid begangen. Ich sehe es ähnlich wie Richard von Weizsäcker: Die heute lebenden Deutschen tragen keine persönliche Schuld daran. Aber wir haben die historische Verantwortung, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht. 

Dann können Sie daraus ableiten, wie sich Deutschland in diesem Krieg verhalten sollte. 

Und was würden Sie jenen sagen, die aufgrund der hohen Energiepreise ein Ende der Sanktionen fordern?  

Für die Werte, um die es hier geht, kann man das überstehen. Deutschland hat lange durch russisches Gas gut gelebt, an die neue Situation muss es sich gewöhnen. Nach der Annexion der Krim sind die Gaspreise auch gestiegen. Hätte man Putin damals gestoppt, wäre es nicht zu diesem Krieg gekommen. Aber um den Wohlstand für die nächsten fünf, sechs Jahre zu sichern, hat man ihn gewähren lassen. Dafür zahlt Deutschland jetzt den Preis. Wir müssen aber langfristig denken. Russisches Gas darf nicht über die Welt regieren.  

Was werden Sie als erstes tun, wenn der Krieg vorbei ist? 

Mein zerstörtes Haus wiederaufbauen. Und mehr Sprachen lernen!  

Wo sehen Sie die Ukraine in zehn Jahren? 

Das ist schwierig vorherzusehen. Ich wünsche mir, dass es ein friedliches und entwickeltes Land sein wird, dass wir die Korruption bekämpfen und uns in Europa integrieren. Aber wir werden wohl weiterhin einen aggressiven, feindseligen Nachbarn haben.  

Wenn Sie wetten müssten: Wie wird Putins Ende aussehen? 

Wie Putins Leben endet, vermag ich nicht zu sagen. Aber, und das ist wichtig: Das ist nicht Putins Krieg. Es ist der Krieg der Mehrheit der russischen Bevölkerung.  

Möchten Sie den Studierenden der CAU noch etwas sagen? 

Mir gefällt die Universität hier. Und ich wünsche mir mehr Austausch! Und zwar, dass auch Deutsche in die Ukraine reisen. Dass sie mit eigenen Augen sehen, was die Russen getan haben. Aber auch die Unis, das Land, die Natur und Kultur. Ich versichere Ihnen: Es wird einiges der deutschen Kultur mit uns in die Ukraine zurückkehren.  

Vielen Dank für das Gespräch.  

Autor*in

Jebril ist 22 Jahre alt und studiert seit einer gefühlten Ewigkeit Philosophie und Anglistik. In seiner Freizeit fotografiert er gerne, verbringt Zeit mit seinen Freunden, spielt gerne Schach und ist leidenschaftlicher Fahrradfahrer. Beim Albrecht ist er für das Ressort Hochschule tätig.

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