Studieren mit Behinderung ist in Kiel eine Katastrophe – mit einem Aktionsplan soll alles besser werden

„Behindert ist man nicht, behindert wird man.“ Dieser Kernidee der Behindertenbewegung folgend zählen Menschen mit Beeinträchtigungen, „welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“, laut UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) zur Gruppe der Menschen mit Behinderungen. Der Anteil der Studierenden an der CAU, auf den dies zutrifft, ist unbekannt.Da Behinderungen auf Bewegungs- und Sinnesbeeinträchtigungen, chronisch-somatische Erkrankungen, psychische Beeinträchtigungen und Teilleistungsstörungen, wie Legasthenie, zurückgehen können, ist er weitaus größer, als offensichtlich: Laut einer Datenerhebung des Deutschen Studentenwerks sind nur sechs Prozent aller Beeinträchtigungen auf den ersten Blick sichtbar. Offensichtlich dagegen ist, dass es Studierende mit Behinderungen im Vergleich zu anderen Hochschulen hier besonders schwer haben: Sie haben keine Lobby, keinen Beauftragten im AStA, keine studentische Hochschulgruppe. „Behinderte waren bislang keine Zielgruppe der Universität“, erklärt Renate Rampf, persönliche Referentin der Vizepräsidentin für den Schwerpunkt Diversität. Die Uni blende sie in der Außendarstellung, z.B. auf offiziellen Bildern, schlicht aus. Bei der Öffentlichkeitsarbeit der Pressestelle spiele die Repräsentation von Behinderten bislang einfach keine Rolle.

An der Uni Kiel können Studierende nicht mit sondern nur trotz ihrer Behinderungen erfolgreich studieren. Barrieren ziehen sich durch alle Bereiche des Uni-Alltags: Nach Kenntnis der Redaktion entsprechen nur zwei der Hörsaalgebäude auf dem Campus den Kriterien der Barrierefreiheit, verfügen etwa über eine Behindertentoilette und die Möglichkeit, ohne fremde Hilfe betreten zu werden. Von baulichen Barrieren wissen auch Anne Klein und Niels Luithardt zu berichten. Die Psychologiestudentin und der Mathematikstudent sind blind. „Neuanschaffungen für eine vermeintliche Barrierefreiheit sind oft einfach kopflos“, beschreibt Anne die Situation. So sei erst kürzlich in der OS75 ein Aufzug angeschafft worden, ohne jedoch an eine Sprachfunktion zu denken. Für Blinde gebe es auf dem Campus noch kein Leitsystem, führt Niels fort, da seien die Uni Marburg, die TU Dresden oder die Uni Leipzig schon viel weiter.

Viel schwerwiegender als bauliche Barrieren ist für Anne und Niels jedoch die Organisation von Lehrmaterialien. Beide müssen dazu persönliche Assistenz in Anspruch nehmen. Die Assistenzen sind oft selbst Studierende und scannen für Anne und Niels Texte und Formeln, damit eine spezielle Software sie vorlesen kann. Gerade die vielen Formeln in Niels‘ Mathematikstudium und in den Statistikvorlesungen von Anne bereiten Schwierigkeiten. Denn die Formeln müssen erst in Lautschrift umgewandelt werden, ehe die Software sie vorlesen kann – und das ist zeitintensiv. „Mit den Stunden, die bezuschusst werden, brauche ich ein volles Jahr, um mit meiner Assistentin den Stoff eines Semesters durchzuarbeiten“, berichtet Niels. Dazu komme, dass sich oftmals nicht schnell genug neue Assistenzen finden lassen. „Ich habe einmal ein dreiviertel Jahr auf eine neue Assistenz gewartet und musste mein Studium deswegen unterbrechen.“ Von der Uni habe er dabei keine Unterstützung erhalten. Neben der Verzögerung seines Studiums ist es vor allem die damit verbundene soziale Isolation, die Niels zu schaffen macht.

Auch in der universitätsinternen Kommunikation ist in der Vergangenheit einiges schief gelaufen. Beratungsangebote durch die Uni für Behinderte gibt es zwar, doch ohne gelebte Diversität ist jede Beratung obsolet. So bezeichnete Behindertenbeauftragte Katja Sala auf Anfrage des Albrechts im Dezember 2014 die Situation von Studierenden mit Behinderungen an der Uni Kiel als „katastrophal“ und ihre eigene Beratungstätigkeit vor dem Hintergrund der ausbleibenden Verbesserungen als „zum Teil fragwürdig“. Diana Grimm von der Schwerbehindertenvertretung wollte sich ohne Einverständnis der Pressestelle erst gar nicht äußern.

Dass der Umgang der Uni mit Behinderten im bundesdeutschen Vergleich höchst verbesserungswürdig ist, musste jüngst auch das Präsidium einsehen. Es hatte ein entsprechendes internes Gutachten bei der Gender Research Group in Auftrag gegeben. Nun hat das Präsidium Geld zugesichert, um zu planen, wie sich die BRK möglicherweise an der Uni umsetzen ließe. Seit diese 2008 in Deutschland in Kraft trat, tat sich in der deutschen Universitätslandschaft nur wenig. Schon Anfang 2009 veröffentlichte die Hochschulrektorenkonferenz Empfehlungen zum „Studium mit Behinderung / chronischer Krankheit“ und nahm die deutschen Hochschulen in die Pflicht, den Artikel 24 in der BRK, also ein inklusives Hochschulsystem, zu realisieren.

Der Aktionsplan ist ein Element der Menschenrechtsbildung

Erste Schritte unternahm Professorin Anja Pistor-Hatam im Juni 2014 als neu gewählte Vizepräsidentin für Studienangelegenheiten, Internationales und Diversität: Den neu geschaffenen Posten der persönlichen „Referentin der Vizepräsidentin für den Schwerpunkt Diversität“ besetzte sie mit Renate Rampf, die zuvor zehn Jahre lang als Pressesprecherin des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland gearbeitet hatte. Pünktlich zum Jubiläumsjahr, da der Uni eine besonders große Aufmerksamkeit zukommen wird, brachte Professorin Pistor-Hatam nun vor allem zusammen mit Professorin Uta Klein, Leiterin der Gender Research Group, die Idee eines Aktionsplans zur Umsetzung der BRK an der CAU auf den Weg. Begleitet vom Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft Berlin (IMEW) und unterstützt vom Deutschen Studentenwerk sowie vom Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung in Schleswig-Holstein, ist es nun nicht nur Ziel, den Artikel 24 an der Uni Kiel umzusetzen, sondern darüber hinaus „Handlungsanleitungen für andere Hochschulen“ zu liefern. Dazu organisiert das Lenkungsteam, bestehend aus Pistor-Hatam, Klein, deren Mitarbeiterin Ester Mehrtens, Grimm, Rampf und Dr. Katrin Grüber (IMEW) nun regelmäßige Versammlungen, um über den Stand des Aktionsplans zu diskutieren. Die eigentliche Arbeit findet in den sechs Arbeitsgruppen statt, die jeweils eigene Themenschwerpunkte haben. So ist es nicht nur Ziel, Barrieren zu beseitigen, sondern auch, als Uni speziell Menschen mit Behinderungen als eine zu repräsentierende Zielgruppe zu verstehen, das Studienerleben zu verbessern und Themen der Diversität in Forschung und Lehre zu bringen. Für Mitarbeiter der Uni, die sich in den Arbeitsgruppen engagieren, gilt die dort aufgewandte Zeit als Arbeitszeit. Eine darüber hinausgehende finanzielle Unterstützung für das Projekt seitens der Uni steht bislang jedoch noch nicht fest.

Ein Jahr lang soll es dauern, einen Aktionsplan auszuarbeiten, der, wie Pistor-Hatam erklärte, ein „Element der Menschenrechtsbildung“ sei. Renate Rampf verwies darauf, dass der Plan keinesfalls als Top-Down-Prozess zu verstehen sei. Alle an der Hochschule Beteiligten seien eingeladen, sich in den Arbeitsgruppen einzubringen, insbesondere Studierende mit Behinderungen. Seit am 10. November mit dem Auftaktworkshop die Arbeit begonnen hatte, fand in den Arbeitsgruppen im neuen Jahr nun jeweils eine erste Sitzung statt. Renate Rampf sprach von einer „großen kreativen Energie der Studierenden“. Auch Niels engagiert sich in mehreren Arbeitsgruppen. „Soweit ich weiß, bin ich dort bislang der einzige Behinderte“, schätzt er die Partizipation Betroffener ab. Doch das nimmt ihm nicht die Hoffnung, etwas verändern zu können: „Ich bin hier um Pflöcke einzuschlagen, um einen Fuß in die Tür zu bekommen. Wir waren nie ein Thema, aber vielleicht werden wir es jetzt endlich.“

 

Autor*in

Jonathan studiert Geschichte und Philosophie. Seit April 2014 schreibt er für den ALBRECHT. Sein Interesse gilt besonders Formen studentischer Selbstorganisation.

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