Containern in Kiel: Unterwegs mit den Mülltauchern

Es ist Samstagabend, 22 Uhr. Der Wind fährt mir unter die Kleidung, es ist kalt und stockdunkel draußen. Vereinzelt laufe ich an Menschen vorbei, die wie ich dem Wetter trotzen. Doch es sind nur wenige, die um die Uhrzeit noch auf den Straßen unterwegs sind. So auch die 18-jährige Berufsschülerin Sabrina. Ich treffe sie in der Nähe des Dreiecksplatzes, wo sie bereits auf mich wartet. Auf dem Rücken trägt sie einen Rucksack, der am Ende unserer Tour prall gefüllt sein wird. Sabrina ist Mülltaucherin. Meist am Wochenende zieht sie los und durchsucht die Container der großen und kleinen Lebensmitteldiscounter nach Essbarem. Dabei findet sie immer wieder Schätze: Eine Tonne randvoll mit Bananen oder literweise Milch, die erst zwei Wochen später abgelaufen wäre. Teils erstaunt, teils schockiert höre ich ihren Geschichten zu und frage mich, was wir heute für Überraschungen erleben werden. Denn Containern, wie das Mitnehmen von weggeworfenen Lebensmitteln bezeichnet wird, ist in Deutschland illegal. Die meisten hätten da jedoch nichts gegen, beruhigt mich Sabrina. Erst ein einziges Mal sei sie bei ihrer Tour zwei Polizisten begegnet. Die hätten sich allerdings nur nett miteinander unterhalten. Für Sabrina und die Sachen in ihrem Rucksack hätten sie sich nicht im Mindesten interessiert.

Foto: sh
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Containern für Kaninchen

Wir biegen um die Straßenecke und befinden uns auf dem Hinterhof einer Supermarktkette. Sabrina öffnet eine Mülltonne und kramt in ihrer Jackentasche nach Einweghandschuhen. Ich knipse meine Taschenlampe an und leuchte ihr. Nacheinander zieht Sabrina ein paar Möhren, Bananen, Clementinen und einen großen Blumenkohl heraus. Viel ist es nicht, weshalb Sabrina nicht unbedingt begeistert ist. Doch sie zuckt nur mit den Schultern: „Heute gehe ich in erster Linie für die Kaninchen containern.“ Drei hungrige Langohren habe sie zu Hause, die alle versorgt werden wollen. Mit ihren Container-Touren spart Sabrina Futterkosten. Für sie ist das ganz entscheidend, bezieht sie doch den BAföG-Höchstsatz für Schüler und kommt trotzdem jeden Monat nur schwer über die Runden. „Ich bräuchte neue Schuhe, wie man sieht“, sagt sie und zeigt auf ihre Füße. Aber leisten könne sie sich die momentan nicht, dafür habe sie kein Geld. Letztes Jahr zog Sabrina nach Kiel, zahlt nun Miete und die ein oder andere Tierarztrechnung. Trotzdem spielt das Finanzielle, was ihre Motivation für das Containern betrifft, nur eine kleine Rolle. Denn Sabrina stellt schnell klar: „Angefangen habe ich es aus Überzeugungsgründen“.

Ein Protest gegen die Konsumgesellschaft

Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Rund die Hälfte aller Lebensmittel landet in Deutschland auf dem Müll. Manches davon, so etwa Kartoffeln oder Gurken, schafft es nicht einmal in die Regale der Supermärkte. Es bleibt auf den Feldern liegen, weil es zu klein ist oder die falsche Farbe hat. Tatsächlich gilt das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Wir kaufen aus optischen Gründen, Ästhetik ist Selektionsmerkmal. Einen Apfel mit Delle lassen wir liegen, was einen Glücksmoment für Menschen wie Sabrina bedeutet, die das frische Obst später aus den Mülltonnen fischen. Das heißt im Umkehrschluss jedoch auch: Eine Verschwendung von Lebensmitteln, die so enorm ist, dass Sabrinas nächtliche Suche nach Essen zu einem kleinen Protest gegen den alltäglichen Konsum wird. Und heute darf ich ein Teil davon sein.

Von Rosen, alten Schuhen und sechs Tuben Senf

Mit gepackten Rucksäcken ziehen wir weiter zum nächsten Hinterhof. Hier treffen wir auf Sandra, Jaqueline und Nadine. „Du bist das Mädchen mit dem Interview?“ werde ich gefragt. Ich nicke. Über das Internet habe ich Kontakt zu Sabrina aufgenommen, was innerhalb der Container-Szene nicht unbeobachtet geblieben ist. Die Mülltaucher organisieren sich über diverse Plattformen oder soziale Netzwerke. Sabrina geht niemals allein. Mal nimmt sie jemanden mit, mal schließt sie sich jemandem an. Normalerweise trifft sie auf ihren Streifzügen keine anderen Container-Gruppen, weshalb es heute wohl die Ausnahme ist, dass wir alle gemeinsam akribisch die Tonnen durchstöbern. Leider ist die Ausbeute gering. Zum Trost schenken uns die drei ein paar Tuben Senf. Die haben sie an einem anderen Spot ergattern können. Sabrina und ich bedanken uns und machen uns langsam auf den Heimweg. Wir finden noch eine Jacke und ein paar Schuhe, die wir in den Altkleidercontainer schmeißen. Aus einer weiteren Tonne zaubert Sabrina einen Strauß Rosen hervor. „Meine Mutter kommt morgen“, meint sie, grinst und verstaut die Blumen in ihrer Tasche. An einer Bushaltestelle verabschiede ich mich von ihr. Erschöpft, durchgefroren, aber glücklich komme ich wieder zu Hause an, wasche das Gemüse und überlege fieberhaft, wer sich in meinem Freundeskreis über eine Senftube freuen würde. Allein würde ich sie niemals aufessen können, doch wegschmeißen käme für mich nicht in Frage. Schon gar nicht nach diesem Abend.

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