Ein Kommentar von Hannah Friedrich und Nadine Pelkmann

In der Regel wird das Thema Anwesenheitspflicht als ein Kampf zwischen Studierenden auf der einen Seite (dagegen) und Lehrenden und Hochschulleitungen auf der anderen Seite (dafür) dargestellt. Studierende argumentieren für die Freiheit im Studium, Selbstbestimmtheit und Selbstverantwortung. Die andere Seite mahnt, dass auch ein Studium Verpflichtungen mit sich bringt, denen sich nicht entzogen werden darf und dass die Vorlesungen und Seminare auch besucht werden müssten, um etwas zu lernen. Aber diese simple schwarz-weiße Zeichnung ist wie so oft nicht ausreichend, um das Thema vollständig zu erfassen. Deshalb ist dies in erster Linie ein Plädoyer für eine differenzierte und damit qualitativere Debatte.

Von unserer Bacheloruniversität kennen wir  beide die Anwesenheitspflicht für Lehrveranstaltungen in Seminarform. Seit dem Wechsel in den Master und an die CAU konnten wir ein Semester lang beobachten, was es aus einem Seminar macht, wenn alle Studierenden frei sind zu kommen. Wir studieren beide eine Geisteswissenschaft, unsere Position zum Thema ist daher sicherlich vor allem für diesen Bereich relevant – für geisteswissenschaftliche Lehrveranstaltungen gelten in mancher Hinsicht andere Parameter als zum Beispiel in den Naturwissenschaften. Bei unseren Seminaren geht es nicht nur um Wissensvermittlung – auf der einen Seite der jeweilige vermittelnde Lehrende und auf der anderen Seite die wissenaufnehmenden Studierenden. Es geht vielmehr um die gemeinsame Erarbeitung von Inhalten und um Diskussionskompetenz. Das ist nichts, was in einer bilateralen Lehrenden-Studierenden-Beziehung vonstattengeht, bei der es für das Studiererlebnis der einzelnen Studierenden völlig egal ist, wie viele Mitstudierende auch gerade Wissen vermittelt bekommen. Bei dieser Art von Lehrveranstaltung hängt die Qualität von der Beteiligung der Studierenden und damit auch von der Teilnahme ab. Sitzen in einem geisteswissenschaftlichen Seminar nur sechs statt 20 Studierenden – weil andere Dinge (Lernen für Klausuren, Job, das Bett, private Verpflichtungen, das Meer oder Netflix) wichtiger sind und die fehlende Anwesenheitspflicht es möglich macht, die eigenen Prioritäten frei zu setzen – dann betrifft die Entscheidung, der Uni fernzubleiben, nicht nur den oder die jeweils Fernbleibende*n, sondern auch ihre anwesenden Kommiliton*innen. Eine gute Diskussion, aus der alle etwas mitnehmen, lebt von den Teilnehmenden und ihren Beiträgen. Die in den Geisteswissenschaften wichtige Pluralität der Debatte verringert sich, wenn nur wenige anwesend sind.

Noch dazu steigt der Druck auf die Anwesenden, denn man kann sich nicht verstecken, nicht mal eben aus dem Fenster schauen und die Gedanken schweifen lassen, wenn man praktisch allein mit dem Lehrenden in einem Raum ist. So kann die fehlende Anwesenheitspflicht zu einem Dominoeffekt führen, der immer mehr Studierende davon abhält, zu den Veranstaltungen zu kommen, und schlussendlich die Seminare zu Vorlesungen im Miniaturformat macht, bei denen wieder nur Monologe von Lehrenden gehalten werden.

Anwesenheitspflicht-Gegner*innen argumentieren oft, guten Lehrveranstaltungen würden Studierende nicht fernbleiben und somit sei es eigentlich ein Problem der Lehre, dass die Hörsäle und Seminarräume leer bleiben. Das deckt sich nicht mit unseren Beobachtungen. Viele unterschiedliche Verpflichtungen und Interessen konkurrieren mit den Lehrveranstaltungen und dabei ist schlechte Lehre aus persönlicher Erfahrung eher selten der wirkliche Grund, nicht zu einem Seminar zu gehen. Wir sehen das Verhältnis von Qualität und Teilnahme andersherum: Teilnahme (und im besten Falle auch Beteiligung) ist notwendig für die gute Qualität einer Veranstaltung.

An dieser Stelle ist es wichtig, zwischen unterschiedlich relevanten Gründen zu unterscheiden. Es gibt Verpflichtungen, bei denen es definitiv Ausnahmen von der Anwesenheitspflicht geben sollte. Elternschaft, Pflege von Angehörigen und Krankheit sind Beispiele für solche Fälle. Meistens sind es jedoch ein anstehendes Referat, das noch nicht vorbereitet ist, der Job, das Sporttraining oder auch die durchfeierte Nacht, die uns dazu bringen, nicht zu erscheinen. Der Unterschied zu den zuvor genannten Gründen ist, dass es hier möglich ist, Prioritäten zu setzen, um beides unter einen Hut zu bekommen. Wenn ich mein Kind von der Kita abholen muss, ist das eine Verpflichtung, die ich nur bedingt nach den Seminarzeiten richten kann. Wann ich mein Referat vorbereite oder zum Sport gehe, kann ich schon eher beeinflussen.

Abgesehen von den oben genannten Ausnahmen ist es also durchaus zumutbar, Seminare und ähnliche Veranstaltungen in den Geisteswissenschaften mit einer Anwesenheitspflicht zu belegen. Mit diesem Modell haben wir vier Jahre lang gute Erfahrungen gemacht. Im Rahmen einer Debatte um die Anwesenheitspflicht muss sich schlussendlich also auch gefragt werden, ob die Freiheit zu kommen und zu gehen, wie es einem beliebt, wichtiger ist, als die Bedingungen für gute Diskussionen – und damit für gute Seminare – sicherzustellen.


Titelbild: Wikimedia Commons, Uni EF; bearbeitet von Leona Sedlaczek

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