Zugegeben, sie waren nie wirklich weg. Immerhin bilden britische Künstler*innen einen Großteil der Geschichte der Populärmusik. Viele der einflussreichsten Musiker*innen der letzten 60 Jahre stammen aus dem Vereinigten Königreich. Und alles begann am 9. Februar 1964 mit dem Auftritt von vier Jungs aus Liverpool in der Ed Sullivan Show: The Beatles schrieben an diesem Tag Musikgeschichte und läuteten ein, was kurz darauf in der Presse als die „British Invasion“ betitelt wurde. Auf dieser Welle schwammen in den darauffolgenden Jahrzehnten einige Gruppen und Solo-Künstler: The Who, The Rolling Stones, Pink Floyd und Billy Idol beherrschten plötzlich nicht nur die Charts in ihrem eigenen Herkunftsland, sondern vor allem auch die in Amerika. Die Ära des Rock’n’Roll der 50er Jahre war offiziell vorbei. Beat- und Rockmusik waren gefragt. Und die britische Musikszene war nur allzu bereit genau in diesen Genres abzuliefern.

Die zweite Welle

In den 90ern schaffte es eine weitere englische Band, eine neue Welle auszulösen: Oasis brachte mit ihrer Gegenbewegung zum amerikanischen Grunge Großbritannien erneut auf den Schirm der Musikwelt. Und über ein Jahrzehnt war der von ihnen geprägte Britpop das Epitome des britischen Sounds.

Zu behaupten, dass die Briten zurück wären, wenn sie doch nie weg waren, klingt also nach einer gewagten Unterstellung. Schließlich haben wir nie wirklich aufgehört The Beatles, Oasis und später die Arctic Monkeys oder Coldplay zu hören, jedoch ist es in letzter Zeit ruhig um diese Künstler geworden (und in einigen Fällen ist es auch eher unwahrscheinlich, dass wir je wieder neue Musik zu hören bekommen, schließlich weilen zwei von vier Beatles leider nicht mehr unter uns und Noel Gallagher hatte seinen Bruder Liam erst im Juni als einen „fetten Mann im Anorak” betitelt).

So war Coldplays Ära nach ihrem vierten Studioalbum Viva la Vida or Death and All His Friends (2008), spätestens aber nach dem fünften Album Mylo Xyloto (2011) vorbei. Marc Vetter, Rolling-Stone-Autor, beklagte 2018 die Tatsache, dass „vier recht begabte Typen, die einen Haufen unsterblicher Lieder geschrieben haben, plötzlich aufgehört haben, Musik zu machen”. Es folgten zwar noch zwei weitere Alben, doch fehlt es den Singles an Seele, von der Yellow (2000) oder Fix You (2005) noch so strotzten.

Hoffnung bleibt uns bei den Arctic Monkeys. Zwar ist es nun auch schon sechs Jahre her, dass die nordenglische Band ihr meisterhaftes Studioalbum AM (2013) veröffentlichte und das darauffolgende Album Tranquility Base Hotel & Casino (2018) verzeichnete nur mäßige Erfolge. Matt Helders, Drummer der Band, verkündete vor Kurzem jedoch, dass es nicht noch einmal fünf Jahre dauern solle, bis ein neues Album auf den Markt komme.

So oder so sah es in den letzten Jahren für jede*n schlecht aus, der*die nach dem typischen Britsound suchte. Doch diese Zeit scheint nun vorbei zu sein: Eine neue Welle an jungen Brits ist auf dem Vormarsch und bereit in die Fußstapfen derer zu treten, die da waren.

Die Aussichten sind gut!

Ganz vorne dabei ist die bereits 2002 gegründete Band The 1975. Mit ihren drei veröffentlichten Studioalben The 1975 (2013), I Like It When You Sleep, for You Are So Beautiful Yet So Unaware Of It (2016) und A Brief Inquiry into Online Relationships (2018) schaffte es die Gruppe um Frontmann Matt Healy sich beinahe durchgehend in den britischen Album-Charts zu halten. Gitarren, Bässe und Drums, die zeitweilig stark an frühere Oasis-Hits erinnern, ohne dabei abgekupfert zu klingen, gepaart mit Healys immer etwas echohaften Vocals, brachten die Band aus Manchester zunächst auf den Schirm der UK-Indieszene. Von da an dauerte es nicht lange, bis die Band Stück für Stück auch ins Bewusstsein des internationalen Musikmarktes gelangte. Jede*r, der*die etwas für den Rock-Pop-Sound und clevere Texte á la Oasis übrig hat, sollte also auf jeden Fall The 1975 eine Chance geben.

Relativ frisch in der Szene ist der 25-jährige Sam Fender. Durch seine Debutsingle Play God wurde Fender 2017 gleich von der Musikszene wahrgenommen und ergatterte 2018 einen Platz in der renommierten BBC Sound of … (2018) Liste, eine jährliche Umfrage in der Größen der Musikbranche Prognosen dazu abgeben, wer im kommenden Jahr seinen Durchbruch schaffen wird. Sam Fender befand sich in der 2018er Liste durchaus in guter Gesellschaft: Sigrid, Khalid und Billie Eilish waren unter anderem auch auf dieser vertreten. Zwei Touren mit Hozier und Catfish and the Bottlemen und einem Debüt-Studioalbum namens Hypersonic Missiles (2019) später und Fender ist mit seinem minimalistischen Indie-Rock mit Live-Vibes definitiv ein Haushaltsname in Großbritannien. Und zunehmend auch international.

Male Adele und Scottish Beyoncé auf einmal?

Ebenfalls ein Alumnus der Sound of 2018 Liste ist Lewis Capaldi. Nur ein Jahr später und der 23-jährige Schotte veröffentlicht das am schnellsten verkaufte Album 2019 in Großbritannien mit dem Titel Divinely Uninspired to a Hellish Extent (2019), das sich ganze sechs Wochen an der Spitze der UK-Albumcharts hielt. Abgesehen von Capaldis einzigartiger rauer Stimme, liegt sein Wert als Musiker aber vor allem in den Texten seiner ausnahmslos melancholischen Balladen. Er selbst bezeichnet sich dabei gerne passenderweise und durchaus selbstironisch als „Male Adele” oder auch, wie im Mai auf einem gigantischen Plakat in der Londoner U-Bahn, als „The Scottish Be-yoncé”, natürlich nicht ohne ein Handyselfie von sich selbst mit Handtuchturban und pink-getönter Sonnenbrille neben diesen Titel zu drucken. Dieses skurrile Auftreten scheint jedoch nicht von seiner Musik abzulenken: Seine dritte Single Someone You Loved (2018) wurde in den USA mit Platin und in Großbritannien sogar mit dreifach Platin ausgezeichnet. Capaldis Sound entspricht zwar nicht dem klassisch britischen, wie ihn andere in dieser Liste vorweisen können, doch erinnert die Seele hinter seinen Texten und Melodien positiv an die Anfänge Coldplays und sein deftiger schottischer Akzent weist ihn eindeutig als Brit aus.

Wollen Fans des „originalen” Sounds diesen finden, suchen sie jedoch auch nicht lang. Dutzende junge Musiker stehen in den Startlöchern, um uns mit jenem Sound zu versorgen: Calvin Rodgers Looking The Fool (2019) orientiert sich an den Klassikern und erreicht einen wunderschönen Retro-Sound; Louis Tomlinsons Kill my Mind (2019) verarbeitet uns bekannte Elemente des Britrocks und kombiniert diese mit bildhaften Texten und einer rauen Stimme mit tief englischem Akzent; Bugzy Malone, der im Grime Bereich zuhause ist, kombiniert in Ordinary People (feat. JP Cooper) (2018) den klassischen Britpop mit dem ebenfalls britischen Genre des Grimes; und Catfish and the Bottlemen lassen mit ihrem Song Longshot (2019) das totgeglaubte Genre des Britpops wieder aufleben.

Autor*in

Hier veröffentlicht DER ALBRECHT seine Gastartikel – eingesandt von Studierenden, Professor*innen und Leser*innen der Zeitung.

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