Die Dunkelheit legt sich über den Wald und mit ihr kommen die Geister. Zwei gelbe Pilzkreaturen stehen unruhig am Wegesrand, Trolle verbergen ihr Gesicht im Schatten großer Kapuzen, der Nebel steigt in Form von drei flatternden Stelzengespenstern zwischen den Bäumen empor. Und während die Glühwürmchen zu leuchten beginnen, sich Äste auf mystische Weise bewegen und Gretel in Panik verfällt, erklingt über allem der verräterische Ruf des Kuckucks als Ankündigung des Bösen.

Es ist bereits das vierte Mal, dass die „Märchenoper aller Märchenopern“ ihren Weg zurück ins Weihnachtsrepertoire des Kieler Opernhauses findet. Bereits die herrlich leichte Musik der Ouvertüre versetzt den Zuschauer in eine andere Welt. Ein loser Bretterverschlag, der so dürftig zusammengenagelt ist, dass durch jede einzelne Ritze das Tageslicht hineinfällt, präsentiert sich dem Publikum beim Heben des Vorhangs. Mehrere Besen, ein in der hinteren Ecke der Hütte stehender Milchkrug – viel mehr braucht es in dieser Inszenierung nicht, um die Geschichte in Gang zu bringen. Während Gretel sich daran versucht, etwas zu stricken, hat Hänsel den Auftrag bekommen, neue Reisigbündel zu binden – doch beide verfallen lieber in Träume und versuchen schließlich, ihr Magenknurren durch singen und tanzen zu verdrängen. Als die Mutter zurück nach Hause kehrt und feststellen muss, dass die zwei ihren Pflichten nicht nachgekommen sind, schickt sie sie voller Wut hinaus in den Wald, damit sie wenigstens ein paar Beeren zum Abendbrot sammeln.

Fantasievolle Inszenierung mit Wohlfühl-Charakter des Märchens. Foto: Olaf Struck
Besonders die fantasievolle Inszenierung trägt zum Wohlfühl-Charakter von Hänsel und Gretel bei.
Foto: Olaf Struck

Zum Leben erwacht die Geschichte des hungerleidenden Geschwisterpaares vor allem durch die großartige Musik der Spätromantik, deren Leitung in Kiel Whitney Reader übernommen hat. Besonders bekannt ist der leichte und klare Abendsegen, aber auch durch die Einflechtung mehrerer Volkslieder trifft das Ohr des Zuhörers auf vertraute Melodien. Im Unterschied zu anderen großen Opern-Werken besticht diese nicht durch trällernde Arien oder gewaltige Paukenschläge, sondern ein angenehmes Dahinfließen der Klänge, die den Märchencharakter der Erzählung träumerisch untermalen. Doch seit der ersten Aufführung des Stückes in Kiel im Dezember 2008 hat sich die Besetzung der Rollen verändert und scheint damit leider an Stimmgewalt verloren zu haben. Obwohl die Sopranistin Şen Acar bisher für die Darbietung mehrerer großer Rollen hochlobende Kritiken bekam, blüht sie als Gretel nicht richtig auf. Lediglich die besonders hohen Passagen lassen ihre Stimme an die Erwartungen herantreten, erst im Duett mit der Hänsel verkörpernden Rosanne van Sandwijk können die zwei dem Orchester einen ernstzunehmenden Gegenpol bieten. Herausstechen kann in dieser Konstellation lediglich Gast-Bariton Antonio Yang in der Rolle des Vaters Peter, dessen Stimme selbst die der Hexe bei Weitem überragt. Fred Hoffmann als Bösewicht hingegen ist zwar in seinem opulenten Kostüm eine furchteinflößende Erscheinung, schafft es jedoch nicht, diese durch stimmliche Kraft zu untermalen.

Entschädigen kann dafür immerhin die überaus fantasievolle Inszenierung Jörg Diekneites, der mit großartigen Bühnenbildern alle Register zieht und jede kindliche Vorstellung des berühmten Märchenstoffes bedient. Aufwändige Kostüme sowie das Mitwirken des Kinder- und Jugendchores tragen zur besonderen Atmosphäre bei. Es tut der Oper gut, dass nicht versucht wurde, ihr durch abstrakte Kulissen eine moderne Interpretation aufzuzwängen. Stattdessen bleibt es bei einer klassischen Umsetzung, in der das Knusperhaus tatsächlich aus überdimensionierten Lollies, Backwaren und Zuckerguss besteht.

Trotz einiger Abstriche präsentiert sich ein selten gewordenes Wohlfühltheater, das gerade zu Weihnachten die Fantasie beflügelt. Wer Hänsel und Gretel nicht am Gesang, sondern am Erlebnis der Geschichtenerzählung misst, kann sich somit auf eine Familienoper freuen, die auch für jeden Studenten außerordentlich sehenswert ist.

Titelfoto: Olaf Struck

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