Von Eva-Lena Stange und Rune Weichert

Lange Schlangen vor Lebensmittelgeschäften, Stromknappheit, die Stilllegung der Staatsinstitutionen, fehlende medizinische Grundversorgung – aus Venezuela erreichen uns seit Monaten keine guten Nachrichten. Das südamerikanische Land steckt in einer der tiefsten Wirtschafts- und Staatskrisen seiner Geschichte. Auslöser dieser Notlage sind äußere Einflüsse wie der Ölpreisverfall und das Klimaphänomen El Niño, die eigentlichen Gründe liegen allerdings tief im politischen System des sozialistischen Staates. Um diese zu verstehen, muss man in der Geschichte zurückgehen.

Vor dem Chávismus

1958 befreite sich das Land von einer Militärjunta und wurde eine Demokratie. Zwischen 1974 und 1979 stiegen die Staatseinnahmen durch die Ölförderung so stark an, dass es zu einem der wohlhabendsten Länder Südamerikas wurde. Circa 240 Milliarden US-Dollar wurden durch den Verkauf des Erdöls zwischen 1973 und 1983 eingenommen. Dadurch konnte Venezuela eine Verteilungspolitik einleiten, die das Land stabilisierte. Die Wende kam aber 1983, als der Ölpreis rapide sank und die Einkünfte wegbrachen, was heikel war, da Venezuela keine weiteren Wirtschaftszweige hatte. Die dadurch drastisch steigenden Schulden des Landes führten zu einer anhaltenden Wirtschaftskrise, die noch bis heute ihre Kreise zieht.

Gründe für diese Probleme sind innenpolitische Probleme, Korruption, Elitenmisswirtschaft, massive Fehlinvestitionen, eine schlechte Bildungspolitik und die Vernachlässigung ganzer Wirtschaftszweige. Venezuela war faktisch pleite. Sparmaßnahmen, die man für Kredite des Internationalen Währungsfonds eingeführt hatte, gingen vor allem zu Lasten der armen Bevölkerung. Die Spirale drehte sich weiter: 1989 kam es zu landesweiten Aufständen und Hungerrevolten, den sogenannten Caracazo, die gewaltsam niedergeschlagen wurden. Langfristige Folge war eine zunehmende Machtverschiebung zum Militär hin sowie der Zerfall des sozialen Konsens und der bis dahin etablierten Parteien.

1992 kam es zu zwei Putschversuchen. Einer von ihnen wurde im Februar durch den damaligen Oberstleutnant Hugo Chávez verübt. Ein Jahr später wurde der amtierende Präsident Pérez durch den Obersten Gerichtshof wegen Veruntreuung und Korruption abgesetzt. Seinem gewählten Nachfolger Rafael Caldera gelang bis 1998 zwar eine politische Stabilisierung, die Wirtschaftskrise konnte er allerdings nicht lösen.

Nicolas Maduro mit der mittlerweile suspendierten brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff hält ein Bild von Hugo Chávez.
Nicolas Maduro mit der mittlerweile suspendierten brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff hält ein Bild von Hugo Chávez.

Vom Chàvismus bis zu Maduro

Am 6. Dezember 1998 wurde Hugo Chávez, mittlerweile Gründer der linksgerichteten Movimiento Quinta República, mit 56 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Chávez‘ Ziele waren der Kampf gegen Korruption, die Schaffung und Stärkung möglichst direkter Demokratie sowie die nationale und ökonomische Unabhängigkeit. Nach Ausarbeitung einer neuen Verfassung und deren Annahme per Referendum wurde Chávez im Jahr 2000 mit einer Mehrheit von 60 Prozent im Amt bestätigt. Chávez‘ Herrschaft wurde mit einem Personenkult um den Präsidenten verbunden. Seine Politik wurde in Anlehnung an seinen Namen ‚Chávismus‘ genannt.

Ersten größeren Widerstand gegen Chávez gab es im April 2002, als ein Putschversuch gegen ihn gestartet wurde, dem Streiks des venezolanischen Gewerkschaftverbundes CTV vorangingen. Es folgten Sabotageaktionen beim staatlichen Erdölkonzern Petróleos de Venezuela (PDVSA) und unerlaubtes Fernbleiben von der Arbeit durch höhere Angestellte und Management. Zusätzlich gab es einen sogenannten Steuerstreik der wohlhabenden Bevölkerung. Es kam zu einem Referendum gegen Chávez, bei dem 2,5 Millionen Unterschriften gegen ihn gesammelt wurden. Chávez erklärte daraufhin, dass er sich dem Referendum stellen werde; der Andrang auf die Wahllokale war riesig. Doch trotz der vielen gesammelten Unterschriften wurde Chávez mit rund 59 Prozent erneut im Amt bestätigt. Die Opposition warf ihm Wahlbetrug vor. Eine von der Opposition initiierte Nachzählung von unabhängigen Institutionen bestätigte aber das Ergebnis. Das Erdöl verhalf Chávez, an der Macht zu bleiben: 2005 sicherte es vier Fünftel der Exporterlöse, die Hälfte der Staatseinnahmen und 25 Prozent des Sozialproduktes. Im Dezember 2006 gewann er die Präsidentschaftswahlen erneut mit nun rund 63 Prozent. Ein Bericht einer EU-Wahlbeobachtungskommission kritisierte starke institutionelle Propaganda, hauptsächlich für die Regierungsseite, sowie die unausgewogene Berichterstattung. Außerdem sei Druck auf Staatsangestellte ausgeübt worden, für Chávez zu stimmen respektive an  seiner Wahlkampagne teilzunehmen.

Derweil änderte sich nichts an der Misswirtschaft im Land, trotz Chávez‘ Versprechungen. Grund dafür ist hauptsächlich der fehlgeleitete Ölhandel: Laut der Organisation der Erdölförderländer OPEC betrug die Fördermenge in Venezuela 2008 2,33 Millionen pro Tag. 2010 lag die tägliche Fördermenge laut Bericht der PDVSA  bei 2,45 Millionen Barrel. Zum Vergleich: Saudi-Arabien förderte 2012 täglich rund 10,7 Millionen Barrel, trotz geringerer Ölreserven. Ein Viertel des in Venezuela geförderten Öls wurde im Land selbst verbraucht, 300 000 Barrel gingen zu Vorzugsbedingungen an Mitgliedstaaten der Ölgemeinschaft Petrocaribe, zum Beispiel ins sozialistische Kuba. Weitere 300 000 Barrel täglich gingen für Tauschgeschäfte zur Kredittilgung nach China. Unterm Strich standen nur rund 1,25 Millionen Barrel für den Verkauf zu Weltmarktpreisen zur Verfügung, was mögliche Mehreinnahmen vereitelte.

Im September 2010 fanden Parlamentswahlen statt. Die linke Regierungspartei Chávez‘ (PSUV) gewann. Nur knapp dahinter landete die rechtsgerichtete Oppositionsbewegung. Die linksgerichtete Patria Para Todos schloss sich aber dem Oppositionsbündnis an. Bevor das Parlament auseinandertrat, verabschiedete es ein Ermächtigungsgesetz für Chávez, das dem Präsidenten 18 Monate lang erlaubte, Sondergesetze ohne parlamentarische Zustimmung zu verabschieden. Im Oktober 2012 wurde Chávez zum dritten Mal als Präsident wiedergewählt. Im März 2013 verstarb er an Krebs.

Unter Chávez ist die Zahl der in Armut lebenden Menschen insgesamt gesunken, trotz eines Anstiegs in den Jahren 2002 und 2003. Auch die Arbeitslosigkeit ging zurück. Landesintern wuchsen die Schulden von 1,7 Milliarden auf 19,3 Milliarden US-Dollar, eine Steigerung von 1 045 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt hatte sich während der Regierungszeit von Chávez bis 2013 verdreifacht, was Experten zufolge hauptsächlich auf den gleichzeitigen Ölpreis-Boom zurückzuführen ist. Mit dem Preisverfall des Erdöls begann sich die Krise zuzuspitzen. Laut Schätzungen der Deutschen Bank im Jahr 2014 bräuchte Venezuela einen Ölpreis von 162 Dollar pro Barrel für einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Anfang 2016 lag der Preis jedoch bei 35 Dollar.

Maduros Mangelwirtschaft

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Venezuelas Wirtschaft ist extrem abhängig vom Ölpreis (Daten: Fischer Weltalmanach)

Nach Hugo Chávez‘ Tod 2013 übernahm Vizepräsident Nicolas Maduro das Amt des Staatspräsidenten. Bei den Neuwahlen einen Monat später erhielt er nur knapp über 50 Prozent der Stimmen; ein peinliches Ergebnis, da die Opposition und Menschenrechtsgruppen von Einschüchterungen der Wähler und gefälschten Stimmzetteln berichteten. Seitdem scheint er genau wie sein Vorgänger seine Macht nicht mehr aufgeben zu wollen. Nicht nur haben es ihm immer mehr Notverordnungen und Sondervollmachten ermöglicht, am Parlament vorbei zu regieren. Seit er bei den Wahlen 2015 mit nur einem Drittel der Stimmen deutlich gegen seinen Herausforderer aus der Opposition verlor, sind diese sein Mittel, um das Land im Griff zu behalten.

Maduros Methoden sind nicht nur autoritär, sie haben die Krise weiter verschärft. Während das Land seine immensen Ausgaben bei der Bezuschussung von Konsumgütern (in Venezuela kostete beispielsweise noch im Jahre 2014 ein Liter Benzin 0,01 US-Dollar) zu Chávez‘ Zeiten noch aus voller Staatskasse decken konnte, ist mit dem gesunkenen Ölpreis das strukturelle Problem des Landes offensichtlich geworden. Um Preissteigerungen zu verhindern, und damit die Bevölkerung zufrieden zu halten, gab Maduro staatlich vorgegebene Preise für nahezu alle Waren vor, allerdings ohne den Firmen und Händlern ausgleichende Zahlungen zu bieten. Denn ohne die Einnahmen aus dem Ölgeschäft verpufft ein Großteil des venezolanischen Staatshaushalts wie eine Abgaswolke. Die Folge: Die zum Tiefstpreis gezwungenen Händler können nur mit Verlust verkaufen und stellen ihr Geschäft komplett ein. Diese undurchdachte Wirtschaftspolitik ist die Ursache der leeren Regale in Venezuelas Geschäften.

Auch Produkte, die den Import von Materialien  erfordern, können nicht mehr hergestellt werden, da der Staat den Firmen keine Devisen für ihren Einkauf zur Verfügung stellen kann. So stellte in den letzten Monaten nicht nur die größte Brauerei mangels Gerste ihre Produktion ein, auch CocaCola verkauft in Ermangelung von Zucker nur noch Light-Produkte. Die Limonade war zuletzt sogar einfacher zu erhalten als Trinkwasser. An Medikamenten, Operationsgeräten und Anästhetika fehlt es ebenfalls.

Hinzu kommt, dass das ganze Land unter dem Klimaphänomen El Niño leidet. Durch die schwerste Dürre seit 40 Jahren werden die Wasserkraftwerke des Landes, die einen großen Teil der Energieversorgung ausmachen, lahmgelegt. Obwohl diese Situation nicht dem Versagen der Regierungspolitik geschuldet ist, zeigt sie durch Maßnahmen wie den Vorschlag, Frauen sollten ihre Haare wegen der Stromknappheit nicht mehr föhnen, ihre Hilflosigkeit gegenüber der Situation. Mit den Plänen zum Energiesparen gehen auch Zwangsurlaub und die Einführung einer Vier-Tage-Woche für alle Beamten einher, was den ohnehin schon stotternden Staatsapparat nahezu zum Erliegen bringt. Wollte Chávez noch die Kriminalität bekämpfen, sind nun manche Gegenden Venezuelas nahezu rechtsfreier Raum, da die Polizei nicht mehr gegen Bandenkriminalität und Raubüberfälle durchgreifen kann.

Aufgrund dieser Faktoren wächst die Unzufriedenheit gerade unter den Bürgern der Großstädte Caracas und Maracaibo immer weiter, seit Monaten nehmen die Proteste gegen Maduro und sein Kabinett zu. Am 10. Juni 2016 wurde eine Petition zur Absetzung Maduros anerkannt, jetzt müssen allerdings noch mehrere Hunderttausend der fast zwei Millionen Unterschriften einzeln geprüft werden – die Opposition mahnt bereits Verschleppungstaktik an. Denn sollte der Präsident noch dieses Jahr abgesetzt werden, würden Neuwahlen folgen; fände die Absetzung erst im nächsten Jahr statt, dürfte aufgrund der kurzen Zeit bis zu den nächsten regulären Wahlen der linientreue Vizepräsident Jorge Arreaza für Maduro übernehmen. Den ersehnten Kursumschwung brächte dieser Wechsel nicht mit sich. In der Zwischenzeit werden immer wieder Demonstrationen mit Gewalt niedergeschlagen, trotzdem schließen sich immer mehr unzufriedene Menschen den Protesten an. Fast täglich kommt es zu Plünderungen.

Wie das alles enden soll, ist noch nicht klar. Amnesty International warnt vor einer humanitären Katastrophe im erdölreichsten Land der Welt. Ob der südamerikanische Staat die Kurve kriegt, bleibt offen. Entweder könnte die Lage durch einen Aufschwung des Ölpreises an Brisanz verlieren, die Regierung gäbe ihre Macht nach dem Referendum freiwillig ab oder dem Land steht ein politischer Umsturz bevor. So drückte es auch der Oppositionsführer Henrique Capriles auf einer Demonstration aus: „Venezuela ist eine Bombe, die jeden Moment explodieren kann.“ Durch das weltweite Überangebot an Erdöl und dem derzeit niedrigen Ölpreis ist eine Besserung nicht absehbar.

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