Annika war gerade in die Pubertät gekommen, als ihr Körper anfing, sich anders als bei ihren Freundinnen zu verändern. Ihre Beine und Arme wurden dicker, während der Rest schmal blieb. Lange Zeit war sie sich sicher: „Ich mach einfach zu wenig Sport.“ Doch dann, mehr als zehn Jahre später, bekam sie die Diagnose Lipödem: das Ende der Selbstschuldzuweisungen und der Anfang des Kampfes für eine gesunde und schmerzfreie Zukunft.  

Nach jahrelangen Selbstzweifeln endlich eine Antwort 

Annika ist eine von rund 3,8 Millionen Menschen in Deutschland, die an der chronischen Fettverteilungsstörung Lipödem erkrankt sind, die fast ausschließlich Frauen trifft. Ausgelöst wird sie durch hormonelle Umstellungen wie in der Pubertät oder in einer Schwangerschaft. Das Unterhautfettgewebe der Beine, und auch seltener das der Arme, vermehrt sich. Dies führt zum typischen Missverhältnis der Proportionen. So wie Annika haben Normalgewichtige einen schlanken Oberkörper, aber eine voluminöse untere Körperhälfte. Bei vielen Betroffenen bleibt es lange Zeit unerkannt, da das Lipödem als Mehrgewicht oder Adipositas fehlgedeutet wird.  

So auch bei Annika. Sie selbst ist sich jahrelang sicher, dass es ihre Schuld ist: „Meine Freundinnen hatten alle dünnere Beine und da dachte ich mir: ‚Das musst du doch auch irgendwie hinbekommen.’“ Deshalb habe sie noch mehr Sport getrieben und noch weniger gegessen. Ein Teufelskreis, aus dem sie nur schwer entkommen konnte. Annika entwickelte eine Essstörung, doch zu ihrem gewünschten Resultat führte ihr Essverhalten nicht: „Meine Beine waren fast so voluminös wie heute und an meinem Oberkörper waren die Rippen zu sehen.“ 
Im Internet wird Annika schließlich auf die Krankheit Lipödem aufmerksam. Doch bis sie sich traut, eine:n Phlebolog:in (Venenärzt:in) aufzusuchen, vergeht einige Zeit. Anfang 2019 ist es dann endlich soweit und sie erhält die Diagnose Lipödem. Annika fällt ein Stein vom Herzen; sie ist doch nicht selbst schuld. Aber ihre Erleichterung hält nur kurz an, denn der Arzt fügt hinzu, dass „sowas” vor ein paar Jahren noch nicht diagnostiziert worden wäre und dass „das” ganz viele Frauen hätten. Ein Beisatz, der weh tut, aber nicht überrascht, denn Annika erklärt: „Lipödem ist auch bei den Mediziner:innen noch nicht sehr bekannt und viele tun es als Modediagnose ab. Manche gehen auch so weit, dass sie die Anschuldigung in den Raum stellen, dass Betroffene nur nach einer Ausrede für ihr Dicksein suchen würden.“  

Der Kampf um Therapie und Heilung 

Annika wird nach ihrer Diagnose als nicht behandlungsbedürftig nach Hause geschickt und soll in zwei Jahren wiederkommen. Ein ungewöhnliches Vorgehen, denn eigentlich sollte Betroffenen nach der Diagnose eine flachgestrickte Kompressionsstrumpfhose verschrieben werden. Diese ist wichtig, denn das Fett in den Beinen drückt permanent auf das Venensystem und die Nerven. Das führt nicht nur zu Schmerzen, sondern kann unbehandelt auch zu einem zusätzlichen irreparablen Lymphödem (dauerhafte Wassereinlagerungen in den Beinen) führen.  
Als Annikas Beschwerden schlimmer wurden, ihre Beine mehr schmerzten und sie stärker einschränkten, ging sie zu ihrem Hausarzt, um sich von ihm endlich die so dringend benötigten Kompressionsstrümpfe verschreiben zu lassen. „Das zieht sich durch den kompletten Verlauf der Krankheit: Man ist sehr auf sich allein gestellt, weil man meistens nicht ernst genommen wird und sich wenige Ärzt:innen wirklich damit auskennen.“  

Den Kampf um die Kompressionstherapie hat sie gewonnen, doch lindert diese ihre Schmerzen kaum. Besonders beim Hocken, Bergaufgehen und abends im Bett schmerzen ihre Beine sehr. Als sie zweimal die Woche zu Schmerztabletten greifen muss, um einschlafen zu können, hat sie genug. Eine Lösung muss her. Annika ist sich sicher: Der einzige Weg, die Beschwerden nachhaltig und dauerhaft zu behandeln, ist die Liposuktion (Fettabsaugung). 
Obwohl die Deutsche Gesellschaft für Phlebologie die Behandlungsmöglichkeit der Fettabsaugung als „sehr effektiv“ ansieht, ist diese bei kaum einer Krankenkasse im Behandlungskatalog zu finden. Das Argument: Eine Fettabsaugung bei Lipödem sei nicht genug erprobt und die Nachhaltigkeit nicht garantiert. Allerdings läuft momentan bis 2024 eine Erprobungsstudie, um genau dies nachzuweisen. Heute werden zwar schon teilweise die Kosten für Erkrankte des Stadiums 3 übernommen, allerdings nur, wenn der BMI nicht zu hoch ist. Ein stark einschränkendes Kriterium, da in diesem Stadium das Lipödem schon sehr schwer ausgeprägt ist.  
Annika ist im Stadium 1 und so wird ihr Antrag auf Kostenübernahme von ihrer Krankenkasse abgelehnt. Auch diese verweist auf das Argument der nicht garantierten Nachhaltigkeit. Außerdem sei sie noch nicht „austherapiert”. Die Kompressionsstrümpfe habe sie erst zu kurz getragen und die Lymphdrainage (Physiotherapie, bei der das Wasser nach oben aus den Beinen gestrichen wird) habe sie gar nicht erst gemacht. Dass ihr Letzteres nie verschrieben wurde, scheint irrelevant zu sein. Also beschließt sie, die 6 000 Euro pro Operation (bei ihr insgesamt vier) selbst zu tragen. Annika ist selbstständig, verdient gut und kann sich dies glücklicherweise leisten. „Ich habe aber auch mit einigen Betroffenen gesprochen, die erst einmal lange sparen müssen, oder es sich gar nicht leisten können.“ 

Gemeinsam gegen das Lipödem 

Aufgrund ihrer Selbstständigkeit hat Annika eine gewisse Reichweite auf Instagram erreicht, die sie nutzt, um über Lipödeme aufzuklären. Ihren eigenen langen Leidensweg möchte sie anderen Frauen ersparen und das Thema mehr in die Öffentlichkeit bringen. „Es ist ein tolles Gefühl, dazu beizutragen, dass Menschen die Krankheit kennen und verstehen. Ich erreiche nicht nur Betroffene, sondern auch Angehörige oder Freund:innen von Betroffenen, die ihnen dann helfen können.“ 
Frauen, die denken, dass sie vielleicht betroffen sein könnten, rät Annika, nicht allzu lange mit dem Arztbesuch zu warten. „Es fühlt sich so gut an, endlich zu wissen, was los ist!“, sagt sie und gibt noch den Tipp, sich eine:n Arzt:Ärztin zu suchen, der:die wirklich Ahnung hat (hier gibt es eine Liste mit solchen).  

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