Es geht um Ecken und Kanten – um die Harmonie des Körpers und gegenseitige Wertschätzung. Zu diesem Zweck werden auch heute Akte angefertigt: Sie sind mehr als nackte Haut. Doch obwohl die Begegnung mit Nacktheit unvermeidbar ist, ist sie oft von Scham geprägt. Die Überzeugung, dass Nacktheit „unnatürlich“ und die damit verbundenen Gefühle von Verlegenheit und Scham „natürlich“ und „normal“ seien, hat sich im Alltag etabliert.

Trotzdem sind in vielen Ausbildungen und Studiengängen, in denen zeichnerische Fähigkeiten von Bedeutung sind, Aktzeichenkurse vorgesehen. Die Anatomiestudien fordern die Lernenden dazu heraus, genau zu beobachten. In der entstandenen Kunst wird Schönheit dort gefunden, wo sie jemand anderes verloren hat. Denn die vielfältigen Zeichnungen und Skizzen, die während einer solchen Studie entstehen, wirken wie ein Filter. Wenn das Model sich selbst im entstandenen Werk betrachtet, sieht es sich durch die Augen des:der Künstler:in. Durch diesen Perspektivwechsel und Abstand zur eigenen Betrachtung im Spiegel wird sichtbar, wie schön diese eine Falte unterm Auge doch sein kann. So kann vor allem das Model die eigene Schönheit durch die Augen einer anderen Person wiederfinden.

Die Kunst hat ihre eigene Sichtweise.

Bei Akten geht es um die „idealisierte Nacktheit“, die mehr ist als unverhüllte Körper. Vielmehr steht sie für Schönheit, Reinheit und Kraft. Dabei sind vor allem vermeintlich atypische Körper spannend zu studieren, denn bei der Abbildung dieser kann sich der:die Abbildende nicht auf vermeintliche Proportionsstandards wie „der Kopf passt siebeneinhalbmal in den Körper“ verlassen. 

Die Schönheit nackter Körper wurde vor allem in der Antike und Renaissance verewigt. Mit Beginn der frühen Neuzeit zeigte sich dagegen eine zunehmende Welle der Prüderie und damit eine Verbannung nackter Körper aus den Medien, bald gefolgt von der zeitgenössischen Kunst. Heute gibt es Nacktheit auf Werbetafeln, im Fernsehen und im Internet – vor allem im Internet. Dabei geht es aber seltener um künstlerische Ästhetik als um Erotik oder Pornographie. Alle diese Themenfelder behandeln im weitesten Rahmen unbekleidete oder freizügige Körper, aber mit konträren Beweggründen.

Während bei Erotik die sexuelle Erregung des:der Betrachter:in im Mittelpunkt steht, geht es bei Akten um Ästhetik, um die Sehnsucht nach Intimität. Die Grenze zwischen beiden ist subjektiv und nicht klar definierbar. Der Psychologe Herbert Selg zieht aber eine deutliche Grenze zur Pornographie. Er unterscheidet erotisches und pornographisches Material anhand der präsentierten Hierarchie. Während es sich bei Erotik um die Darstellung der Sexualität ohne Degradierung der Beteiligten handelt, ihre Gleichwertigkeit somit betont wird, enthält Pornographie dagegen deutlich aggressive Anteile, die dadurch zum Ausdruck kommen, dass Menschen abgewertet werden, ohne dass ein Anreiz zur Reflexion gegeben wird. 

Akte bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Wertschätzung und Erotik in einer Gesellschaft, die erneut von einer Welle der Prüderie heimgesucht wird. Zwar ist der öffentliche Raum von freizügigen Bildern geprägt, diese bleiben aber implizit und indirekt. Mit dieser künstlich geschaffenen Distanz wird der Voyeurismus hinter verschlossenen Türen ausgelebt. Trotzdem gibt es verschiedenste Leute, die die Schönheit und Vielfältigkeit der Körper zelebrieren. Abseits von Pflichtkursen und Erregung. Treu nach dem Motto: Lasst uns authentische Körper feiern und sie der ganzen Welt zeigen!“ Denn Scham wird mit der Kleidung abgelegt.

Autor*in

Mirjam ist seit Mai 2021 Teil der ALBRECHT-Redaktion und mittlerweile mit ihrem Biologie-Bachelor so gut wie fertig. Anfangs nur im Lektorat-Team tätig, hat sie dann allmählich begonnen selbst Artikel zu schreiben und ist jetzt seit dem SoSe 22 die Leitung des Kulturressorts.

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