Harper Lee verstarb am 19. Februar 2016 im Alter von 89 Jahren in Monroeville, Alabama.

Mitte letzten Jahres erschien der zweite Roman Gehe hin, stelle einen Wächter der amerikanischen Schriftstellerin Harper Lee. Es stellte sich heraus, dass dieser 1957 vom Verlag J. B. Lippincott abgelehnt worden war, wie Lees Anwältin im Februar letzten Jahres verlauten ließ. Die Autorin machte ihn daraufhin zur Grundlage ihres 1960 erschienen Weltbestsellers Wer die Nachtigall stört und hielt ihren Erstling seitdem zurück. Sie gewann 1961 den Pulitzerpreis und ihr Roman erlebte eine ungeahnte Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. In den USA hat es der Roman in den Kanon der Schulbuch-Literatur geschafft und Millionen von Kindern geprägt. Im letzen Jahr war das Manuskript von Gehe hin, stelle einen Wächter, nach Angaben von Lees Anwältin, wieder aufgetaucht, nachdem es lange in Vergessenheit geraten war.

Die Handlung von Gehe hin, stelle einen Wächter ist in den 1950er Jahren, etwa zwanzig Jahre nach der des ersten angesiedelt. Lees Weltbestseller zeichnet das Bild des aufrichtigen, fürsorglichen, streb- sowie arbeitsamen amerikanischen Vaters Atticus Finch, der mit Hilfe der schwarzen Haushälterin Calpurnia seine beiden Kinder Jean-Louise, genannt Scout, und ihren Bruder Jem erzieht und währenddessen als einer der ersten Anwälte in dem Südstaaten-Kaff Maycomb einen fälschlich der Vergewaltigung einer weißen jungen Frau angeklagten Schwarzen verteidigt. Aus der Sichtweise Scouts wird das Aufwachsen der Kinder vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Szenerie der Südstaaten und dem Gerichtsprozesses, den ihr Vater als aufrechter Anwalt durchficht, entfaltet.

Dabei bezog der erste Roman das Zeug zum Weltbestseller aus der Darstellung einer vom Schicksal gebeutelten Restfamilie, deren Außenseiterstatus zur perfekten Projektionsfläche der amerikanischen Mittelstandsgesellschaft der 1960er Jahre taugte. Im dem neu erschienenen Roman legt Lee das Gewicht auf den größeren Kreis der Familie Finch und relativiert deren Außenseiterstatus. Scout, die nun als Jean-Louise auftritt, reist aus New York zurück in ihre Heimatstadt, um ihren von Rheuma geplagten Vater, der dem nahenden Ende seiner beruflichen Laufbahn entgegengeht, zu besuchen. Dabei trifft sie auf dessen Schwester Alexandra, die im Hause des Vaters wohnt und die häuslichen Pflichten, der in Rente gegangenen Haushälterin übernommen hat und das Abziehbild einer klassischen Südstaaten-Lady darstellt. Atticus‘ Bruder Jack lebt als Arzt im Ruhestand und eigenwilliger Kauz scheinbar weltabgewandt und übernimmt die Rolle des Ratgebers, der sein Wissen aus der viktorianischen Literatur des 17. Jahrhunderts bezieht, ein. Daneben wird Henry Clinton, genannt Hank als neue Figur eingeführt, der es zur rechten Hand von Atticus gebracht hat und sowohl als Anwärter für dessen Anwaltskanzlei als auch auf die Hand von Jean-Louise gehandelt wird. Seine Person ist als jüngeres Double von Atticus angelegt.

Die moderne New Yorkerin erwarten in ihrer Heimatstadt Menschen, mit ihr fremd und überkommen anmutender Sozialisation, und der unabgeschlossene Abnabelungsprozess einer jungen Frau von ihrer Familie. Lee lässt die beiden Themenkomplexe aufeinanderprallen und sie sich bis zur Unkenntlichkeit miteinander verwirren, sodass der sich anbahnende Konflikt die Hauptperson mit fortschreitender Handlung förmlich zu zerreißen droht. Auf den Höhepunkt folgt nicht die ersehnte Erlösung, der Konflikt lässt sich nicht mehr auflösen, die Themenkomplexe nicht entwirren und doch geht die Handlung weiter. Die allenthalben vorherrschende Ambivalenz in Bezug auf beide ist nicht nur für Jean-Louise unerträglich, sondern fordert den auf political correctness trainierten Leser nicht nur heraus, sondern muss ihn enttäuschen.

Spätestens jetzt muss der Leser bemerkten, dass es sich gerade nicht um eine Fortsetzung des Debütromans, sondern um die Vorlage für den späteren Weltbestseller handelt. Als solche stellt der Roman den Ausgangspunkt dar, von dem aus die Personen des Debütromans konstruiert sind. Es führt keine Linie vom ersten zum zweiten Roman und eine Persönlichkeitsentwicklung im Sinne eines Fortschritts, was üblicherweise sowohl vom Handlungsverlauf als auch Zeitgeist angenommen wird, besteht nicht. Demnach hat sich nicht Atticus Finch im Laufe der zwanzig Jahre, die zwischen den Handlungen der beiden Bücher liegen, zum Rassisten entwickelt, wenn überhaupt ist er von Anfang an einer gewesen und nicht einer hätte es bemerkt. Verneint wird dies an keiner Stelle, wie sich die Autorin auch sonst mit allzu klaren Wahrheiten zurückhält, an die sich der Leser klammern könnte. Und so kann Onkel Jack in der Stunde höchster Not Jean-Louise raten: „aber vergiss nicht, er wird sich stets an die Buchstaben und den Geist des Gesetzes halten“.

Die von der Handlung zunächst unabhängige Publikationsgeschichte tritt zufällig in Interaktion mit der Handlung und bedingt so die Möglichkeit im enttäuschten Leser einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen. Gehe hin, stelle einen Wächter gewinnt seine Stärke daher einerseits im Lichte des Debütromans und anderseits durch seine Publikationsgeschichte. Aus dem enttäuschenden Ende ergibt sich in der Nachschau ein detailliertes Panorama der amerikanischen Südstaaten-Gesellschaft, das durch seine Ambivalenz in Bezug auf die dargestellten Beziehungsgeflechte besticht und auf diese Weise der Realität in erschütternder Weise näher kommt als Harper Lees Welterfolg.

Demnach sei dem Leser anempfohlen beide Romane nach der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung zu lesen, sich dem naheliegenden Schluss, eine chronologische Entwicklung der Geschichte anzunehmen, hinzugeben, und die Enttäuschung am Ende ins Positive zu wenden.

Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
314 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN: 978-3-421-04719-9.

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