Eis, Schnee, Schlittenhunde und Heiligabend – dieses winterliche Vokabular prägte ausgerechnet einen Abend im August. Im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals durften wir vom ALBRECHT das Konzert Winterreise besuchen. Es bot sich ein Wechselspiel aus gefühlvollem Gesang und einer außergewöhnlichen Lesung. 

Es war ein besonderes Gefühl, das erste Mal nach langer Zwangsabstinenz wieder in einem Konzertsaal zu sitzen. Der Abend begann mit einem gespannten Warten auf den ersten Ton und auf jenen Moment, in dem aus Zuhören ein Spüren der Musik wird. Doch es gab neben der Musik noch einen weiteren Höhepunkt: Auf der Bühne saß ein Wiener Tatortkommissar – oder vielmehr sein Darsteller — Harald Krassnitzer. Passend zu Franz Schuberts Liederzyklus Winterreise entführte Krassnitzer das Publikum lesend ins ewige Eis. Die Berichte einer österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition ergänzten den musikalischen Vortrag des Baritons Benjamin Appl, der von James Baillieu auf dem Flügel begleitet wurde.  

Aufbruchsstimmung 

Schuberts Liederzyklus beginnt mit einem Aufbruch. Es singt ein Wanderer, der sich aus freien Stücken von seiner Geliebten abwendet und den es in die Welt hinaustreibt. In jedem Ton ist eine Sehnsucht nach Wärme zu hören. Ebenso in Aufbruchsstimmung schrieben die Teilnehmer der Nordpolexpedition, aus deren Tagebüchern Krassnitzer las. Die Forschungsreise mit der „Admiral Tegethoff” bedeutete für viele Männer den erstmaligen Aufbruch in die unbekannte Arktis. Auch die Tagebuchschreiber wünschten sich nach anfänglicher Aufregung bald die Wärme ihrer Heimat zurück. Es ist kein Zufall, dass die Wortwahl der Tagebücher und Schuberts Komposition so dicht beieinander liegen. Der Sänger Appl und Schauspieler Krassnitzer trafen sich einige Tage in London, um geeignete Textpassagen für den Liederzyklus zu finden. Appl hatte schon zuvor Schuberts Winterreise mit Lesungen zu Antarktisexpeditionen verknüpft.  

Auf großer Fahrt? 

Im Juli 1872 brach die „Admiral Tegethoff“ im norwegischen Tromsø auf. Der Kapitän Weyprecht vertrat die Theorie des eisfreien Nordpolarmeers. Er ging von einem eisfreien Stück Arktis aus, welches eine leichte Handelsroute nach Japan freilegen würde. Mit 24 Männern, zehn Schlittenhunden und zwei Katzen an Bord begann die Reise erst euphorisch. Nach knapp einem Monat Fahrt wurde das Forschungsschiff jedoch im Polareis eingeschlossen, womit ein trostloses 109-tägiges Warten begann. Trotz Dunkelheit wurde täglich um 17 Uhr ein Bewegungsprogramm durchgeführt, um die Besatzung bei Laune zu halten. Die Berichterstattung wurde dennoch hörbar trister. „Helles Wetter – Mit Schlittenhunden unterwegs gewesen“ las Krassnitzer immer wieder vor. Denn in diesem dunklen Winter passierte fast nichts anderes. Es hatte dennoch etwas Komisches, denselben Satz immer wieder zu hören. Beinahe klang es so, als habe eine Platte einen Sprung.  

Die Tagebucheinträge an Heiligabend brachten wieder muntere Töne in den Konzertsaal. Schuberts Melodien wurden freudiger und auch die Besatzung war in fröhlicher Aufregung. In weiser Voraussicht wurde für den Festtag eine Kiste vorbereitet. Darin waren neben Schildkrötensuppe, Rentierfleisch und Torte auch zahlreiche Rumflaschen und Champagner. 

Auf ins Franz-Josef-Land 

„Schnee, du weißt von meinem Sehnen: Sag, wohin doch geht dein Lauf?“ sang Benjamin Appl. Das werden sich auch die Reisenden gefragt haben. Denn tatsächlich gelang es im Sommer 1873, die Reise fortzusetzen. Nicht mehr im Eis eingeschlossen trieb die „Admiral Tegethoff” weiter in den Norden. Jedoch hatte sich unter dem Schiff im langen Winter eine Eisscholle festgesetzt, die den weiteren Kurs bestimmte. Weiterhin der Natur ausgeliefert, entdeckten die Forschenden bald Land, welches sie prompt nach ihrem Kaiser benannten. Unter diversen Komplikationen wurde das Land erforscht und zu österreichischem Hoheitsgebiet erklärt. Heute gehören das Franz-Josef-Land und die zugehörigen Inseln zu Russland. Landexpeditionen werden heutzutage nur in strengen Ausnahmefällen genehmigt. Übrigens wurde nach fast zwei Jahren im Eis auch die Theorie des eisfreien Nordpolarmeers widerlegt. 

Aufwühlende Ereignisse 

„Krähe, lass mich endlich sehn – Treue bis zum Grabe!“ heißt es in einem der Lieder. Eine Parallele zeigt sich auch hier. Schließlich fürchteten die Nordpolreisenden fast täglich den Tod. Ob beim Kampf gegen Eisbären, gegen Krankheiten wie Skorbut und Lungentuberkulose oder gar gegen das Eis, welches sie so lang nicht freiließ. Kaum war das Lied zur todbringenden Krähe abgeklungen, las Krassnitzer den Todesbericht eines der Matrosen vor. Ein weiterer Beweis dafür, wie außerordentlich gut die Liedtexte und Tagebuchtexte aufeinander abgestimmt wurden. Und in gewisser Weise war die Winterreise perfekt an diesem Abend: Nicht nur der Wanderer und die Forschenden waren längere Zeit aus dem Alltag gerissen. Den drei Künstlern ist es gelungen, auch die Zuschauer auf Reisen in fremde Welten zu schicken. Der Sommer wurde an diesem Abend vor den Konzerttüren gelassen. 

Autor*in
Ressortleitung Kultur

Lena studiert Deutsch und Englisch und ist seit November 2020 Teil der Albrecht-Redaktion. Sie schreibt gern Kultur-Artikel und leitet seit Januar 2024 das Kultur-Ressort.

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