Aber wie es bei Wunderkindern so ist, vergisst man leicht ihr tatsächliches Alter und weist sie für Verhaltensweisen zurecht, die eigentlich völlig normal sind. Als sich abzeichnete, dass es die Veranstalter in der vierten Runde wohl nicht schaffen würden, ein ähnlich gutes Programm wie im Vorjahr zusammenzustellen, geschweige denn, dieses wie bisher stets aufs Neue zu übertreffen, häuften sich die kritischen Stimmen. Und als Resultat fanden sich am 16. und 17. November statt 4 500 nur gut 4 000 Festivalgäste in der Ferienparkanlage am Weissenhäuser Strand ein.

Friday; I‘m in Love

Am Freitag ist von diesen Problemen allerdings nichts zu spüren. Zumindest auf der Hauptbühne im beheizten Festzelt bietet sich zum Auftakt ein grandios abgestimmtes Programm. So demonstrieren zunächst die Tindersticks in feinem Zwirn gewandet, dass sie längst einmal einen Preis für die „bestgekleidetste Band aller Zeiten“ verdient hätten. Die musikalische Umsetzung ist glücklicherweise ähnlich anspruchsvoll wie die Garderobe der sieben britischen Gentlemen – selbst das Glockenspiel-Solo wird mit einer akustischen Präzision gespielt, die einen den Kiefer herunterklappen lässt.

Im Anschluss wird es bei Kettcar ungleich ruppiger. Einerseits weil die Band um Markus Wiebusch auch mal beherzter in die Seiten greift um das Publikum vor dem Verfall in die Herbst-Apathie zu bewahren, andererseits weil der Frontmann zwischen den Songs zu Scherzen aufgelegt ist und gleich die Anleitung zur Weekender-Wall-of-Death mitliefert: Die Grauhaarigen auf die eine, die Glatzköpfigen auf die andere Seite.

Als dritte im Bunde demonstrierte Natasha Khan mit ihrer Band Bat for Lashes eindrucksvoll, wie man das Erbe von Kate Bush für die Indie-Kids aufbereitet: Eindrucksvolles Stimmvolumen und brummende Bässe kombiniert mit der Ausstrahlung einer Frontfrau, deren offensiv ungelenkiger Tanzstil ihresgleichen sucht. Konsequenz: Szenenapplaus, Standing Ovations, Belagerung des T-Shirt-Stands. Herausragend.

Den Headliner-Posten bekleiden dann die mittlerweile unantastbaren Tocotronic. Und wer ein derartiges Standing hat, darf auch schon mal mit einem schrottigen Gitarren-Sound aufwarten, der das vollbesetzte Festzelt erstmal zusammenzucken lässt. Im Gegenzug gibt es dafür die Uraufführung zweier Songs vom erst im Januar erscheinenden neuen Album. Auch wenn die unter all dem Lärm eher zu erahnen als zu hören sind.

Samstag ist Selbstmord

Außerhalb des Zelts wirkt das Bühnengeschehen aber deutlich ernüchternder. So hat sich beispielsweise die lebende Legende Van Dyke Parks im 700 Zuschauer fassenden Festsaal an seinem Piano hinter einem Boxenturm platziert und ist somit für einen Großteil des ohnehin nicht sonderlich euphorischen Publikums unsichtbar. Ein anderes Problem hat man als Fan der Ein-Mann-Bluesrock-Armee Reignwolf. Die Blockhütte, in der er spielt, ist dem Publikumsandrang nicht gewachsen, weshalb ein paar Dutzend Zuhörer vor der Tür auf Einlass warten müssen. Gegen die Novemberkälte hilft da nur Kette rauchen bis der Lungenkrebs dreimal klingelt.

Am zweiten Festivaltag greifen die Mängel dann auch auf die Hauptbühne über. Zwar wissen Animal Collective und Mark Lanegan zu reüssieren, dafür wirkt der Faröer Songwriter Teitur hier deutlich deplatziert und spielt vor fast leeren Rängen. Da hilft es auch nicht, mit Calexico den wohl unspektakulärsten Headliner der Festivalgeschichte zu engagieren. „Langeweile wird allgemein unterschätzt“, schrieb das gastgebende Magazin jüngst über die Musik dieser Band. Wer an diesem Abend vor Ort war, wurde allerdings vom Gegenteil überzeugt. Nichtsdestotrotz dürfte ein Großteil des Publikums auch im nächsten Jahr wieder vor Ort sein, um die fünfte Runde einzuläuten. Schließlich lassen nur Rabeneltern ihre Wunderkinder fallen sobald ihnen die ersten kleinen Fehler unterlaufen.

Autor*in

Janwillem promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft. Er schreibt seit 2010 regelmäßig für den Albrecht über Comics und Musik, letzteres mit dem Schwerpunkt Festivalkultur.

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