Mit ihrem Essay Krieg – Stell dir vor, er wäre hier zeichnet die dänische Autorin Janne Teller das düstere Bild eines zerfallenden und zerkämpften Europas. Das Erstarken rechter Parteien in Deutschland führt zur Renationalisierung und schließlich zur gewaltsamen Abspaltung von der Europäischen Union. Die Kämpfe mit den ehemaligen Partnern und innenpolitische Machtdemonstrationen treffen die Einwohner hart. ‚Nicht so Deutsche‘ verschwinden plötzlich und Anhänger der Demokratie verstummen durch Einschüchterung und Folter. Das griechische, spanische und französische Militär kämpft mitten in den Straßen gegen den anti-europäischen Staat, sodass selbst der Gang durch die Stadt gefährlich ist. Die Wasserleitungen und Heizungen sind kaputt und da die medizinische Versorgung fast zum Erliegen kommt, kann im November schon eine Lungenentzündung den nächsten Sommer unerreichbar werden lassen.

Janne Teller schreibt in der zweiten Person Singular und richtet sich damit zunächst an die Hauptfigur, einen anfangs 14-jährigen Jungen. Doch viel mehr wird dadurch der Leser direkt angesprochen, zumal er sich als Teil der jetzigen deutschen (prä-Kriegs-)Gesellschaft und den bekannten Strukturen mit dem Jungen und seinem Umfeld identifizieren kann. Während der inhaltlichen Entwicklung des Essays begleitet der Leser den Jungen in seiner Not, zunächst durch die Kälte und den Hunger, vorbei an den ausländischen Heckenschützen auf den Straßen und, nach der Entscheidung für die Flucht, bis nach Ägypten.

Dort muss die Familie warten, bis sie eine Aufenthaltsgenehmigung bekommt. So bleibt sie zwei Jahre ohne Arbeit oder sprachliche Ausbildung in einem Erstaufnahmelager, zusammen mit anderen Europäern, die sie als Fluchtgrund verfluchen. Als die ersehnte Genehmigung die Familie dann tiefer in das ägyptische Leben führt, muss sie eine drittklassige Behandlung ertragen. Mit dem Verkauf von Kuchen auf der Straße finanzieren sich die gestrandeten Deutschen, bis nach einer Zeit  in gewissem Maße die Integration gelingt. Doch Komfort oder Ruhe erfährt die Hauptperson noch immer nicht, besonders weil jeder Tag von dem Gedanken bestimmt wird, dass die Heimat zerstört und unbewohnbar in weiter Ferne liegt. Alle Perspektiven des mittlerweile Erwachsenen haben sich aufgelöst. Die Flucht und der Lager- aufenthalt haben seine Jugend zerrissen und in eine verlorene Zeit verwandelt. Sein Leben wird gesteuert von aktuellen Umständen und bietet ihm weder Zufriedenheit noch Sicherheit.

Die Gestaltung des Buches als Pass, herausgegeben vom Hanser-Verlag

Die dänische Originalfassung des Buches schrieb Janne Teller bereits 2001, als in Dänemark Flüchtlingsdebatten europäische Grundsätze zu ignorieren begannen. Aus der philosophi
schen und christlichen Ethik sei insbesondere in Vergessenheit geraten, dass alle Menschen gleich beschaffen seien und, dass jeder Mensch Andere behandeln solle, wie er selbst von ihnen behandelt werden möchte. Nachdem der Essay 2004 in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde – wobei er damals noch Skandinavien im Krieg porträtierte – beschloss Teller 2010, ihn aufgrund der Aktualität erneut zu veröffentlichen. Hierfür passte sie die Vorlagen für die Übersetzungen inhaltlich an die geopolitische Lage des jeweiligen Landes an. Dadurch gibt sie umso mehr Menschen die Möglichkeit, die Perspektive auf eine persönliche und betroffene Art einzunehmen. Neben einer beachtlichen literarischen Leistung hat sie damit einen Anstoß gegeben, der international verständlich ist: „Stell dir vor, der Krieg wäre hier.“

Unterstützt wird die starke und beunruhigende Vision durch die Illustrationen von Helle Vibeke Jensen. Sie verwendet die Symbolik von Einreisepapieren, Stempeln, Karten sowie immer wieder kleine Figuren in großer Ratlosigkeit, um auf die Globalität und Individualität von Flucht hinzuweisen. Als eine Mischung aus Zeichnung und Collage zeigen die Illustrationen durch ihre repetitive Symmetrie die Ausweglosigkeit der Flüchtenden und ihre Einsamkeit als Wenige unter so Vielen zutiefst eindrucksvoll.

Wer die Autorin schon mit ihrem Jugendbuch Nichts kennenlernte, hat eine Vorstellung von der schonungslosen Art, die Ideen ihrer Vision immer weiterzuführen, ohne sich irgendwann in das sichere Happy End zu flüchten. Obwohl Krieg recht kurz ist, beschreibt sie darin detailreich und ausführlich die Zustände und Gefühle, denen die Opfer von Kriegen und Flucht ausgesetzt sind. Damit fokussiert sie die Gedanken des Lesers: Auf die Flüchtlinge, die unaufhörlich zu uns strömen, ihre Geschichten erzählen, Schutz suchen und sich willkommen und wohl fühlen wollen – aber auch auf die Entwicklung, die wir momentan in Europa beobachten können, die innerkontinentalen Krisen, Probleme und Streitigkeiten, die es so schwer machen, angemessen auf globale Krisen zu reagieren. Krieg führt uns vor Augen, wovor wir uns fürchten, obwohl wir es noch für dystopisch halten. Gleichzeitig kann der Essay uns dafür öffnen, zu verstehen, wie wichtig es gerade jetzt ist, Solidarität mit der Welt zu zeigen und statt Wutbürger Weltbürger zu sein.

Bild: Illustration zum Buch von Helle Vibeke Jensen

Autor*in

Studiert seit 2013 Psychologie in Kiel, und frönt dem ALBRECHT seit dem Wintersemester 2014/15, von 2015 bis 2017 als Bildredakteurin und von Januar 2017 bis Januar 2018 als stellvertretende Chefredakteurin.

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