Frau Dr. Merkel, Sie haben sich neurowissenschaftlich wie juristisch mit Wachkoma-Patienten beschäftigt. Wann gilt jemand als Wachkoma-Patient und haben diese noch eine bewusste Umweltwahrnehmung?

Der Begriff wird in der Juristerei nicht einheitlich verwendet. Im Englischen spricht man auch von ‚vegetative state‘, da die vegetativen Systeme von Atmung und Verdauung noch funktionieren, die kognitiven aber nicht. Der Wachkoma-Patient ist also per definitionem nicht mehr bei Bewusstsein. Die Wachheit meint nur einen Rhythmus, in dem die Patienten ihre Augen geschlossen oder offen haben, allerdings ohne etwas zu fixieren. Sobald sie das tun, spricht man hingegen von einem minimalen Bewusstseinszustand. Der Begriff des Wachkomas wird in der Rechtsprechung dennoch auf beides ausgedehnt, das ist durchaus problematisch.

Ist der Zustand des Wachkomas therapierbar?

Medizinisch betrachtet bedeutet das Wachkoma den weitgehenden Ausfall der Großhirnfunktion bei einem gleichzeitig intakten Hirnstamm. Das kann unterschiedliche Ursachen haben: Traumata, Sauerstoffmängel oder Vergiftungen, die jeweils vorübergehend oder auch dauerhaft ein Wachkoma auslösen können. Die Wahrscheinlichkeit der Rehabilitation ist bei traumatischen Ursachen und jüngeren Patienten höher. Jedenfalls wartet man mehrere Monate, bis man davon ausgeht, dass jemand nicht mehr zu Bewusstsein kommt. Wenn das Wachkoma als Folge einer fortschreitenden Altersdemenz eintritt, ist es dagegen üblicherweise unumkehrbar.

Wie sieht ein Behandlungsabbruch aus, wenn sich letzten Endes dafür entschieden wird, den Patienten sterben zu lassen?

Eigentlich immer gleich. Die Patienten erhalten in aller Regel über eine PEG-Sonde flüssige Nahrungszufuhr. Wird die Behandlung abgebrochen, dann stellt man diese Maßnahme ein. Die Patienten versterben dann meist innerhalb von zwei bis drei Wochen. Dies erfolgt natürlich ausschließlich in der Annahme, dass der Patient mit der Weiterbehandlung nicht einverstanden ist. In dem Falle wäre sie nämlich eine Körperverletzung. Der Wille des Patienten geht dabei entweder aus einer Patientenverfügung hervor oder es wird ermittelt, was er mutmaßlich wollen würde.

Wie wird dieser mutmaßliche Wille bestimmt?

Das ist Aufgabe des Betreuers, der bei jedem dauernd Einwilligungsunfähigen bestellt wird. Die Betreuer müssen nicht unbedingt Angehörige sein, sind es aber oft. Sie informieren sich im Umkreis des Betreuten nach dessen Äußerungen in Bezug auf dieses Thema sowie nach seinen allgemeinen ethischen und religiösen Einstellungen. So gelangt man üblicherweise zu einer Einschätzung des Patientenwillens.

Besteht hier keine Missbrauchsgefahr, wenn sich beispielsweise ein Verwandter von den Pflichten oder der Last befreien wollte?

Das Gesetz sieht ja nicht vor, dass der Betreuer die Entscheidung allein trifft. Er muss sie mit dem behandelnden Arzt gemeinsam treffen, nur dann kann sie ohne Einschaltung eines Gerichts umgesetzt werden. Bei Divergenzen muss das Betreuungsgericht eingeschaltet werden, was einen ziemlichen Aufwand bedeuten kann, wenn weitere Ärzte ihre Prognose zur Therapie abgeben. Der Betreuer muss außerdem darlegen, wie er zu seiner Einschätzung gelangt ist. Wenn der Richter zur Ansicht gelangt, dass der Betreuer nicht den Willen des Patienten vertritt, sondern nur seine eigene Auffassung durchzusetzen versucht, dann kann er diesen natürlich auch abbestellen.

Das bedeutet, dass zwar das Sterbenlassen von Wachkoma-Patienten aufgrund von Mutmaßungen erlaubt ist, wenn aber jemand ausdrücklich wünscht, durch eine Injektion schnell zu sterben, anstatt zu verhungern, dann ist das als ‚Tötung auf Verlangen‘ verboten und steht ausnahmslos unter Strafe. Dabei enthält der aktuell geäußerte Wille gegenüber dem mutmaßlichen eigentlich ein ‚Mehr‘ an Legitimation. Das ist irritierend.

Ein Locked-In-Patient zum Beispiel ist bei vollem Bewusstsein, kann sich aber nur über Augenbewegungen verständlich machen. Doch auch auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin darf ihm keine tödliche Injektion verabreicht werden. Er kann nur durch Behandlungsabbruch sterben, also verhungern oder ersticken. Ich halte das für ein Missverständnis des Lebensschutzes und einen Verstoß gegen die Autonomie der Bürger, die der Staat zu garantieren hat.

Haben Sie selbst einmal problematische Fälle der Sterbehilfe miterlebt?

Tatsächlich habe ich in einem Krankenhaus mal die Erfahrung gemacht, wie schwierig es sein kann, den mutmaßlichen Willen ermitteln zu müssen. Der Ehemann und Betreuer einer schwer dementen Dame konnte diesen nicht zuverlässig darlegen. Man hat dann zwar aus dem verfügbaren Personal eine Ethik-Kommission zusammengerufen, in der ein Pastor, Pfleger und Ärzte vertreten waren, aber kein Jurist. Rechtlichen Rat halte ich bei einer solchen Entscheidung jedoch für unabdingbar. Aus dieser Kommission kam dann nur die Rückfrage an das Gericht, was die Patientin denn früher zu einer solchen Situation geäußert habe. Was hätte die Kommission auch anderes machen sollen? Die Behandlung wurde schließlich abgebrochen, nachdem sich doch noch eine Tochter gemeldet hatte, die glaubhaft machen konnte, dass ihre Mutter mit einer Weiterbehandlung nicht einverstanden gewesen wäre. Das hat in Kombination mit deren schwerer, irreversibler Erkrankung letztlich den Ausschlag gegeben.

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Patrick Jütte.

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