Wer als Ersti in den ersten Wochen nach dem Umzug nach Kiel seinen Studienort erkundet, findet zunächst viel nettes Mittelmaß. Kiel ist mittelgroß, mittelmäßig schön und besitzt mittelmäßiges Wetter. Weder kann Kiel auf eine historische Altstadt oder eine wichtige Rolle in der Hanse noch auf ein wegweisendes Musikhaus oder Kunstmuseum verweisen. Und so unterläuft einem schnell, während vom mittelmäßigen Club in die mittelmäßig gut renovierte Wohnung und am Morgen in die mittelmäßige Uni gefahren wird, dass eine Sache sich des Mittelmaßes verweigert.

Passend zur Stadt, die doch so nordisch unprätentiös ist, ist hier die Rede vom Radfahren. Zugegebenermaßen, auf den ersten Blick ein eher mittelmäßig spannendes Thema, doch ein genauerer Blick lohnt sich. Was sich auftut, ist ein 120 km langes Fahrradroutennetz, bestehend  aus Velorouten, Fahrradstraßen und separaten Fahrradstreifen auf vielen Hauptverkehrsstraßen, welches sich über die gesamte Stadt erstreckt. Zusätzlich finden sich 5 000 Fahrradstellplätze, die sogenannten „Kieler Bügel“ und ein Fahrradparkhaus für radelnde Pendler am Hauptbahnhof. Was für viele Kieler*innen eine Selbstverständlichkeit ist, ist noch längst nicht deutschlandweit Standard. Ein Ausflug nach Hamburg genügt schon, um zu realisieren, dass der von Baumwurzeln aufgeworfene, schlecht asphaltierte, kleine schwarze Streifen neben dem Fußgängerweg noch vielerorts grauenvolle Realität ist. Während es sich in Kiel über den Knooper Weg und die Holtenauer Straße schlaglochfrei düsen lässt, wird hier die Fahrt durch die Stadt zum Slalomparcours, dank der vielen parkenden Autos auf den Radwegen.

Kiel ist Fahrradstadt, das steht außer Frage. Doch damit das auch so bleibt, muss hierfür auch einiges getan werden. Denn belegte Kiel 2002 noch den zweiten Platz unter den fahrradfreundlichsten Großstädten in Deutschland im Fahrradklima-Test des ADFC, so fand sich die Landeshautostadt 2016 nur noch auf Platz sechs wieder. Auch andere Städte wie Hannover, Karlsruhe und Bremen haben in der Vergangenheit realisiert, dass das Fahrrad als Transportmittel eine Antwort auf viele Verkehrsprobleme in Ballungsräumen bietet. So benötigen Fahrräder weniger Platz im Straßenverkehr und kleinere Parkflächen, sodass überfüllte Straßen zur Hauptverkehrszeit entlastet werden und große Parkplätze entfallen. Gleichzeitig fährt es sich mit dem Rad emissionsfrei, was stickstoffbelasteten Innenstädten und der Umwelt zugute kommt. So werden im Vergleich zu einem im Durchschnitt sechs Liter auf 100 Kilometer verbrauchenden Auto auf einer Strecke von 2,5 Kilometern 0,35 Kilogramm CO2 eingespart,  wenn das Rad statt des Autos genutzt wird.

Um noch mehr Kieler*innen für den Umstieg auf das Rad zu gewinnen und wieder Anschluss an die Spitzenplätze im Fahrradstadtranking zu finden, wird seit einigen Jahren an der Veloroute 10 gebaut. Der geplante Fahrradschnellweg verläuft auf der stillgelegten Gütergleistrasse West und wird nach seiner endgültigen Fertigstellung Ende 2019 den Wissenschaftspark an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und den Stadtteil Hassee miteinander verbinden. Im Gegensatz zu den Fahrradstraßen oder den bisherigen Velorouten ermöglicht die neue Veloroute 10 eine nahezu barrierefreie Fahrt, denn bis auf zwei kreuzende Straßen lässt sich der neue Fahrradschnellweg ohne weitere Hindernisse befahren. Hierdurch lässt sich Zeit einsparen und Stress wird durch einen kontinuierlichen Fahrfluss vermieden, sodass die Strecke attraktiv für Berufstätige ist.
Neben der Reduktion von Stress hat der Umstieg auf den Drahtesel weitere positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Zusätzlich zu dem Verbrennen von Kalorien (auf 2,5 Kilometern sind es durchschnittlich 58,80 Kilokalorien) stärkt die Bewegung mit dem Rad die Muskeln, die Gelenke und das Immun- und Herz-Kreislauf-System. Tägliches Fahrradfahren kann somit einen Beitrag zur Eindämmung von Volkskrankheiten wie Diabetes oder Übergewicht leisten und einen Ausgleich zum bewegungsarmen Bürojob und langen Tagen in der Bibliothek darstellen.

Doch noch liegt der Anteil aller zurückgelegter Strecken mit dem Fahrrad in der Landeshauptstadt konstant bei 21 Prozent. Insbesondere auf dem Ostufer herrscht Nachholbedarf – hier finden sich deutlich weniger Velorouten und Radstreifen auf den Straßen, sodass die Werftstraße die Hauptfahrradachse für das gesamte Ostufer darstellt. Ebenfalls die Mitnahme von Fahrrädern in den öffentlichen Bussen der KVG gestaltet sich nach wie vor schwierig. Dass der Oberbürgermeister Ulf Kämpfer sein Wahlversprechen, Kiel zur Fahrradstadt Nummer eins zu machen, halten kann, ist somit nicht realistisch, auf der einen oder anderen Strecke auf Bus und Auto zu verzichten, um stattdessen mit dem Rad frisch und bewegt ans Ziel zu kommen, jedoch mit Sicherheit schon.

 

 

 

 

 

Autor*in

Sophie studiert Germanistik und Kunst. Seit April 2015 ist sie Teil der Redaktion des ALBRECHTs. Sophie ist für den Bereich 'Zeichnungen' zuständig und greift hier auch gerne selbst zum Stift.

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