Seit rund 10 Tagen läuft der Film Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück in den deutschen Kinos. Die Kooperation aus Deutschland, Luxemburg und Frankreich unter der Regie von Oscar-Preisträger Florian Gallenberger dreht sich um einen realen, bis heute brisanten Fall: Die Colonia Dignidad (dt. Kolonie der Würde) in Chile.

Die Handlung des Polit-Thrillers mit Emma Watson und Daniel Brühl in den Hauptrollen ist schnell zusammengefasst: Die Flugbegleiterin Lena (Watson) besucht ihren Freund Daniel (Brühl) in Chile. Daniel gehört zu einer Gruppe von Unterstützern des sozialistischen Präsidenten Allende; ist vor allem für Fotos und Plakate zuständig. Das Paar verbringt einige glückliche Tage in Daniels Wohnung, bis am Morgen des 11. September 1971 die heile Welt zerstört wird. Unter der Führung des rechten Generals Augusto Pinochet hat ein Militärputsch stattgefunden, Allendes Regierung wurde gestürzt. Daniel und Lena bleibt nur die Flucht. Aber der junge Fotograf wird als Anhänger Allendes enttarnt. Während Lena unversehrt in Daniels Wohnung zurückkehrt, wird er gefoltert, unter anderem mit Elektroschocks. Lena bringt in Erfahrung, wo ihr Freund gefangen gehalten wird: in der Colonia Dignidad, einer deutschen Sekte. Sie beschließt, sich in die Gruppe einzuschleusen, um Daniel zu befreien.

Was für Watson und Brühl eindrucksvolles Spiel ist, war für rund 300 Anhänger der Sekte grausame Realität. Die Kolonie wurde 1961 durch Paul Schäfer gegründet, nachdem er wegen des Verdachts sexuellen Missbrauchs aus Deutschland fliehen musste. Im Film inszeniert sich Schäfer (Mikael Nyqvist) unter dem Namen Pius als Gesandter Gottes, der in die Seelen der Sektenmitglieder blicken und ihnen den rechten Weg weisen kann. Schäfer gelingt die absolute Kontrolle über seine Anhänger. Abgeschottet von der Außenwelt lebt die Sekte hinter Stacheldrahtzäunen und Selbstschussanlagen. Ihr Dasein ist geprägt von harter Arbeit und Gewalt. Vor allem Frauen haben zu leiden. Als „Schlampen“ seien sie vom Teufel besessen, der ihnen bei den sogenannten Herrenversammlungen mit Gewalt ausgetrieben wird. Frauen und Männer leben getrennt voneinander, Kinder wachsen ohne ihre Eltern auf. Mit Psychopharmaka werden die Menschen geschwächt. Im Mittelpunkt steht Pius, der die Mitglieder gegeneinander ausspielt und sich an Chorknaben vergeht. Alles steht unter dem Deckmantel der Frömmigkeit. Nebenbei unterhält Schäfer gute Kontakte zum Regiment Pinochets, liefert aus der nach außen präsentierten deutschen Idylle Waffen und testet Giftgas für die Regierung.

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Natürlich muss die Produktion von Benjamin Herrmann mit Dramatik spielen. Folterszenen werden detailliert gezeigt, der Film ist nichts für schwache Nerven. Inwiefern die Realität überzeichnet wurde, ist schwer zu sagen. Fest steht allerdings: Die Szenen decken sich mit den Aussagen ehemaliger Opfer Schäfers. Von 1961 bis 1997 gelang es nur fünf Insassen zu fliehen. Zwei Jugendliche konnten, ähnlich wie Daniel und Lena, Fotos herausschmuggeln. Und so schafft der Film es, auf die bis heute bestehenden Probleme aufmerksam zu machen. Denn die Geschichte der Colonia wurde bis heute nicht lückenlos geklärt. Besonders schwerwiegend: die kontroverse Rolle der Bundesregierung Deutschlands. Im Film sind auch Mitarbeiter der deutschen Botschaft in die Machenschaften Schäfers verwickelt. Mittlerweile hat sich eine Gruppe von Wissenschaftlern, Angehörigen von Verschwundenen, Menschenrechtsaktivisten, Anwälten und ehemaligen politischen Gefangenen als Asociaciíon por la Memoria y los Derechos Humanos Colonia Dignidad zusammengeschlossen, um die Verbrechen der Colonia aufzuklären und die Geschichte aufzuarbeiten. So hat es sich beispielsweise der Politikwissenschaftler Jan Stehle seit seiner Promotion zur Aufgabe gemacht, Akteneinsicht zu erlangen. Dafür ging er soweit, das Auswärtige Amt zu verklagen. Nicht nur der Drang nach Gerechtigkeit treibt die Aktivisten an, sondern auch die Angst vor einer Wiederholung der schrecklichen Zustände.

Diese wirkt gar nicht so unwahrscheinlich, denn die Kolonie existiert als bizarre Touristenattraktion mit dem Namen Villa Baviera weiter. Es gibt keine Erinnerungsstätten, keine Möglichkeit, der Opfer zu gedenken. Eigentlich als Übergangslösung gedacht, leben ehemalige Sektenmitglieder in den heruntergekommenen Gebäuden  und servieren den Touristen deutsche Küche zu Volksmusik. Im ehemaligen Zippelhaus, heute ein Hotel, berief Schäfer die im Film thematisierten Herrenversammlungen ein. Die Wiese vor Schäfers Wohnhaus bietet die Möglichkeit, Hochzeiten zu feiern und sich das Ja-Wort zu geben. Deutsches Klischee wird vermarktet. Man stelle sich dieselbe Lage in Auschwitz vor, ein Ding der Unmöglichkeit.

So surreal die Situation ist, so ausweglos ist sie für die ehemaligen Anhänger Schäfers. Einige von ihnen mögen der Vergangenheit nachtrauern und sich deswegen nicht von dem Ort des Grauens trennen. Anderen bleiben kaum andere Optionen. Sie haben kein Geld, keine Ausbildung, sprechen kaum Spanisch und sind traumatisiert, wurden bis heute nicht entschädigt. Chile ist trotz allem ihre Heimat, in Deutschland würde sie Hartz IV erwarten. Der Ort, an dem sie so viel Elend ertragen haben, ist paradoxerweise ihre einzige Perspektive.

Vielleicht bietet der Film, insbesondere durch seine hochkarätige Besetzung, den Anstoß zur Aufarbeitung, welche der Colonia bis heute fehlt. Immerhin: das Auswärtige Amt finanziert ein Seminar in Berlin, das in Zusammenarbeit mit den Aktivisten der Memoria die Möglichkeit zur Schaffung einer Gedenkstätte beleuchten soll. Ein Schritt in die richtige Richtung, der für viele Opfer Schäfers wohl leider zu spät kommt.

Autor*in

Maline ist 25 und studiert Deutsch und Politikwissenschaft im Master an der CAU. Sie ist seit Mai 2015 Mitglied beim Albrecht.

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