Der Kassenschlager der aktuellen Spielzeit: West Side Story

Triggerwarnung: Die rezensierte Inszenierung von West Side Story stellt sexualisierte Gewalt dar und behandelt rassistische Themen.


Jede Saison des Theater Kiel wird dominiert von einem Granatenpfeil im Repertoire-Köcher. Geschickt in den Bogen der Spielzeit gebettet, verspricht jeweils ein Stück ganz besondere Spannung im Publikum. Oft sind es etablierte Klassiker, die Aufhorchen lassen und einen guten Verkauf an den Kassen generieren. Bei der Programmvorstellung für diese Spielzeit waren die Lauscher besonders gespitzt, als das Musical West Side Story angekündigt wurde. Alle wussten sofort: “Something’s Coming”. Als Musical-Gigant fordert West Side Story seit 1957 die Ensembles internationaler Bühnen. Ob als Film- oder Opernversion: Die sozialen Konflikte, die in einem katastrophalen Dilemma enden, sind leider brandaktuell.

Gespannt wurde dem Werk wieder entgegengefiebert. Schließlich liegt die letzte Kieler Aufführung schon geraume Zeit zurück. Doch nun – 15 Jahre nach der letzten Inszenierung in Kiel – ist das Werk perfekt mit dem aktuellen Kulturgeschehen abgestimmt: Die prominente Neuverfilmung von Steven Spielberg mit ihrer Starbesetzung liegt erst wenige Monate zurück. Zugleich bildet die Wiederaufnahme 25 Jahre nach Jerome Robbins’ Tod eine zauberhafte Hommage an den begabten Choreografen des Originals. Optimale Grundlagen für eine neu interpretierte, ideenreiche Wiederaufnahme also. Doch der Pfeil verfehlt sein Ziel diesmal knapp.

Zugegeben: Die hohen Verkaufszahlen sind für eine gespaltene Stadt wie Kiel äußerst erfreulich. Eine Stadt, die sich in Ost- und Westufer teilt, die Ghettoisierung seit mindestens einem Jahrhundert forciert und auf die Spitze treibt. Wir als ihre Bürger profitieren alle von dieser diffizilen, komplexen Story auf der West Side, welche die Bedeutsamkeit von humaner und lebensbejahender Integration pompös in den Mittelpunkt stellt. Es wird ganz unmissverständlich klar: Rassismus ist der Todesfeind von gesellschaftlicher Akzeptanz.

Gute Miene zu bösem Spiel

Die brutalen Morde auf der Bühne verstärken das beklommene Gefühl, was aufgeklärte Bürger*innen an diesem Musicalabend befällt. Denn das Problem ist viel zu übertragbar, viel zu real. Und dennoch gibt es stehende Ovationen und lauten Jubel am Ende jeder Vorstellung. Sicher gehört es absolut dazu, die Arbeit der Opernschaffenden zu honorieren. Für mich fühlt sich der Applaus an diesem Abend aber ähnlich befremdlich an wie ein Like für einen Kriegspost der Tagesschau dazulassen. Der Applaus gilt zudem vorrangig dem idealistischen Liebespaar Romeo und Julia – oh, Verzeihung – Tony und Maria (Gonzalo Campos López, Xenia Cumento). Das liegt sicher begründet in ihrer ausgezeichneten Solo-Leistung, legt aber auch die Frage offen, ob das Kernproblem im Publikum überhaupt angekommen ist.

Problematisch sind nämlich die Jets, die ein Viertel der Stadt für sich beanspruchen und keine Ausländer dulden. Problematisch ist Officer Krupke (Florian Hacke), der den Frieden im Viertel zwar oberflächlich wahren möchte, sich aber immer wieder durch rassistische Äußerungen ins Abseits schießt. Problematisch sind auch die Traumvorstellungen der Sharks und ihrer Frauen, die sich rasant mit ohrenbetäubendem Knall in Luft auflösen. Viele Dialogszenen, die diese Probleme in den Fokus rücken könnten, bleiben leider flach. Einzig die Choreografie von Yaroslav Ivanenko verkörpert die Dynamik dieser Reibungspunkte in befriedigender Form.

Zerplatzte Träume

Sobald die Sharks zum ersten Mal die Bühne betreten, bringen sie ihre Träume mit. Der amerikanische Traum nach einem besseren Leben jenseits einer perspektivlosen Heimat wird im Topsong “America” entgegengeschrien. Die Frauen der Außenseiter aus San Juan singen stimmgewaltig ihre Überzeugungen in das Kieler Publikum: “I wanna be in America! Everything free in America!”. Der Song hat an diesem Abend den längsten Nachhall im Saal. Die Worte gehen mit ihrem Pathos unter die Haut, – die Melodie erlebt eine Wiederbelebung an den denkbar grausamsten Stellen. Ausgerechnet Anita (Maria Pambori), die als Einzige keinen Gefallen an der Fremde findet, wird das erste Opfer der (sexualisierten) Brutalität zu diesem Soundtrack. Extreme Emotionen wie Hass und Liebe sind keine Hürden für den hochkarätigen Cast.

Auch Tony und Maria verführen mit ihrer idealistischen Liebe in eine Traumwelt, die keine Grenzen kennt. Die Performance von Xenia Cumento ist der Glanzpunkt des Abends, und nach seiner ersten Arie ist auch Gonzalo Campos López auf ihrem Niveau – fast buchstäblich. Denn nebst Falltüren und bewegten Gerüsten greifen die Bühnenbildner um Lars Peter unentwegt in Trickkisten, um räumliche Tiefe und mehrere Zwischenebenen zu schaffen.

Leider bleibt die Dramaturgie im direkten Vergleich ohne tiefgründige Zwischenebenen. Zwischen schwindelerregenden Wolke-7-Momenten und abgrundtiefem Hass ist einzig der dialogische freie Fall. Die Gespräche zwischen Jets und Sharks verblüffen mit nicht ausreichender Bühnenpräsenz, das Grundthema findet im Gesang der Gruppen keinen musikalischen Biss. Einzig der konkurrierende Tanz hebt einige gruppendynamische Szenen aus der Bedeutungslosigkeit. Ein belastendes Resümee für ein Werk, was soziale Gruppierungen in den Fokus rücken soll. Weder für die erfolgreiche Imitation von Romeo und Julia noch für brutale Gewaltszenen bin ich in die Oper gegangen. Ich wollte ein Gesamtkunstwerk sehen, was in jeder Sekunde das Spannungsfeld der rassistischen Bedrohung aufrecht erhalten kann. Und obwohl das Thema Platz auf der Bühne findet, ist es für ein Sozialdrama im Musical-Stil, noch dazu mit Spielort Kiel(-West) wahrlich zu schwach.

We’re halfway there

Der Fisch stinkt wohl ein bisschen am Kopf. Für das Musical wurde nämlich durchaus ein überragend erfahrener Cast zusammengestellt, der Erfahrungswerte von Disney-Produktionen und angesehenen internationalen Musical-Akademien in den Norden bringt. Dass Sing- und Sprechstimmen außerhalb des Protagonist*innenpaars kaum treffsicher im Publikum resonieren, zeigt: Kiels Granatenpfeil war dieses Jahr nicht scharf.

Eine Notiz sei noch zum Ende gestattet: Meine persönlichen Kontaktpunkte mit West Side Story waren bislang schmerzhaft uninspirierend. Den unfassbar erfolgreichen Oscar-Streifen von 1961 habe ich in einer Dauerschleife von Musikvertretungsstunden zwischen staubigen Pauken und miefenden Mittelstufenschülerinnen kennengelernt. Eine wahrlich schlechte Basis, um eine Adaption in ihrer Kunstfertigkeit zu erkennen. Die Kieler Inszenierung hat es somit immerhin geschafft, meine Augen für eine mögliche Neusichtung zu öffnen. Vielleicht aber lieber für den Kinofilm mit Ansel Elgort und Rachel Zegler.

Autor*in
Ressortleitung Kultur

Lena studiert Deutsch und Englisch und ist seit November 2020 Teil der Albrecht-Redaktion. Sie schreibt gern Kultur-Artikel und leitet seit Januar 2024 das Kultur-Ressort.

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2 Kommentare

  1. verwechselt sharks mit jets / jets mit sharks aber findet die dialogszenen zwischen ausgebildeten balletttänzerinnen und balletttänzern, die das erste mal ever auf einer bühne stehen für singen und sprechen, zu flach und nicht inspirierend genug. ok. Vielleicht ist Theater einfach nicht das richtige für Sie. gehen Sie ruhig weiter filme gucken.

    • Finn Schamerowski on

      Lieber Erhard,

      nach deinem Kommentar und den Hinweisen anderer Redakteur*innen auf die Verwechslung, haben wir den Fehler selbstverständlich sofort behoben.

      Viele Grüße, Finn

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