Der Kieler Liliencron-Preis bekommt Nachwuchs

Wer Dozent*innen der Lyrik in Deutschland sucht, hat wenig Auswahl. Schnell wird klar, dass Kiel in puncto Lyrik-Dozenturen ein Alleinstellungsmerkmal aufweist. Der Liliencron-Preis löst den Fachbereich Lyrik aus dem Cluster der Literaturwissenschaften heraus und ist unmittelbar geknüpft an eine Dozentur, die auf ein Jahr befristet ist. Preisträger*innen bekommen die einzigartige Gelegenheit, ihre Profession singulär in ein universitäres Umfeld einzubetten und den Diskurs um ihre Lyrik maßgeblich zu gestalten. 

Unter den dunklen Zweigen des alten botanischen Gartens stand das Literaturhaus Schleswig-Holstein am 22. Januar hell erleuchtet. Im Inneren herrschte reges Treiben und mit aufgeregter Anspannung wurde ein Auftakt erwartet, der sich von bisherigen Liliencron-Dozenturen abhebt. Für gewöhnlich wird der Liliencron-Preis vorab an ein*e Lyriker*in verliehen; erst eine Lesung des eigenen Werks markiert anschließend den Beginn der einzigen Lyrik-Dozentur Deutschlands. An diesem Abend jedoch saßen zwei Frauen am Pult des Literaturhauses, um einen Eindruck ihrer Lyrik bei den Zuschauenden zu hinterlassen. Grund dafür war ein Debütpreis, der durch ein Projektseminar vom Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien ins Leben gerufen wurde. 

Im aktuellen Wintersemester machten sich die Studierenden von Dr. Mareen van Marwyck daran, der Gegenwartsliteratur und dem Kulturmanagement auf den Zahn zu fühlen. Für die Verleihung des ersten Liliencron-Nachwuchspreises galt es, fünf vom Institut ausgewählte Autor*innen und ihr Werk zu prüfen. Auf die Entscheidung der studentischen Jury folgte sodann eine vertiefte Auseinandersetzung mit Pressearbeit. Für die Preisträgerin Franziska Ostermann wurde eine Pressemappe erstellt, eine Laudatio geschrieben und ein moderiertes Gespräch geplant. 

Kampmann und Ostermann im Gespräch. // Bild: Sina Pedersen.

Anders als der Liliencron-Preis, der deutschlandweit Preisträger*innen auszeichnet, richtet sich der Nachwuchspreis „an Lyriker*innen mit biographischem Bezug zu Schleswig-Holstein, die zwischen 18 und 36 Jahre alt sind und bisher nicht mehr als zwei Bücher im Bereich Lyrik veröffentlicht haben”, so entschieden Institut und Literaturhaus im Vorweg. Sprachneuheiten wie das Wort ‚Flutsaum’ unterstrichen am Lesungsabend im Literaturhaus die Nähe Ostermanns zu ihrer Kieler Heimat. Überhaupt machen Neologismen viele ihrer Gedichte aus, die in ihrem Gedichtband OSZIT gesammelt veröffentlicht wurden. Ihren damit so einzigartigen Umgang mit Sprache und Formen betonte die Nachwuchspreis-Jury in ihrer Laudatio: „Worte [werden] nicht einfach ökonomisch von oben links nach unten rechts gelayoutet, vielmehr werden sie, mit einem starken Bewusstsein für die weiße Fläche auf dem Papier, gewissermaßen auf die leere Seite aufgetragen.” Franziska Ostermann denke die Sprache immer auch in ihrer graphischen Dimension, sehe den Text als künstlerisches Werkzeug. 

Anschließend an die Laudatio präsentierte die Preisträgerin ihr Werk und eröffnete auch dem Publikum ein Bewusstsein für diese weißen Räume auf dem Papier. Durch Sprechpausen an teils unerwarteten Stellen zeichnete die Autorin auch akustisch ein abstraktes Bild ihrer Worte. Wortschnipsel fügten sich in ihrer Lesung aneinander, teils sehr „wirr” – wie auch eines ihrer Gedichte betitelt ist – teils aber auch überraschend passend. Es wurde deutlich, dass es oft nur wenige Buchstaben braucht, um Assoziationen in den Köpfen von Menschen entstehen zu lassen. Als Gesamtkunstwerk und ohne Ausführungen dazwischen verlas Ostermann mehrere Gedichte und ließ sie dabei ganz auf das Publikum wirken. Später am Abend bedankte die Nachwuchs-Preisträgerin sich für die „Anspannung im Raum”, denn es sei eine gute Anspannung gewesen. 

Der zweite Teil des Abends verlief beinahe wie es für die Liliencron-Dozentur üblich ist: Die 26. Preisträgerin Anja Kampmann wurde vorgestellt und begann ihre Lesung mit einem Gedicht, was in der Schweiz für verwirrte Gesichter gesorgt habe. Schließlich umriss sie darin eine Landschaft, die mit einem kollektiven Gedächtnis spielte, welches wohl überwiegend in Norddeutschland verbreitet sei. Anders als Ostermann umrahmte Kampmann ihre Lesung mit Recherche-Anekdoten und Ausführungen zu ihrer Intention. Was auf den ersten Hörer wie ein Gedicht über einen Hund klingen mochte, ist im Tiefgang eine versteckte Beobachtung von Fracking-Gebieten und ihren Bewohner*innen. Ein Gedicht über einen gebrochenen Helden namens Kasparow entpuppte sich als ein empörtes Sinnen zum ersten Sieg eines Schachcomputers über den menschlichen Verstand. 

Die Laudatio der Jury wurde am darauffolgenden Tag vor der Poetikvorlesung in der Olshausenstraße 75 vorgetragen. Am 23. Januar durfte Kampmann dort ihre erste öffentliche Vorlesung im Rahmen der Liliencron-Dozentur halten. Unter dem Motto ‚Stimme – vom Einfangen der Welt’ lud die Lyrikerin dazu ein, sich zu vergegenwärtigen, welche Mittel Sprache besitzt, um unsere heutige Welt – auch für die Nachwelt – einzufangen. Weitere Veranstaltungen, gekoppelt an die Dozentur, werden in Kürze auf den Seiten des Instituts und des Literaturhauses SH bekanntgegeben. 

In einem moderierten Abschluss-Gespräch resümierte die Nachwuchs-Preisträgerin Franziska Ostermann: „Schreiben ist für mich Erinnern und Schaffen zugleich.” Ihr Schreiben, Erinnern und Schaffen wurde an diesem Abend im Literaturhaus gebührend gewürdigt, durch Applaus, begeisterte Nachgespräche und nicht zuletzt dem mit 1 000 Euro dotierten Nachwuchspreis. 

Autor*in
Ressortleitung Kultur

Lena studiert Deutsch und Englisch und ist seit November 2020 Teil der Albrecht-Redaktion. Sie schreibt gern Kultur-Artikel und leitet seit Januar 2024 das Kultur-Ressort.

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