La Bohème flirtet mit der Sehnsucht

Der Aufschwung für das studentische Kulturticket kann sich sehen lassen. Kiels Oper beweist aufs Neue: Diese Ensembles können Großstadt, Wehmut und schauspielerisches Talent mit höchster Musikalität kombinieren. Themen, die Studierende bewegen, treffen in menschlich-wahrhaftiger Weise auf eine glasklare Vanitas. 

Mit einer Kritik zu La Bohème konnten sich Redakteure schon vor 127 Jahren gehörig in die Nesseln setzen. Unmittelbar nach der Turiner Uraufführung 1896 attestierten Zeitungen Puccinis Werk als musikalische Oberflächlichkeit und prophezeiten einen schnellen Untergang am Opernhimmel. Zwei Monate später gelang jedoch ein Durchbruch der Superlative. Die vierte Aufführung erlebte einen anhaltenden Abschlussapplaus, der auch weit nach Mitternacht nicht abebbte. Die weltweite Ansteckung der italienischen Begeisterung blieb nicht aus. Mit bewegendem Inhalt und frischer Inszenierung trifft Puccinis Meisterwerk auch heute den Zeitgeist. So gehört La Bohème nun auf internationalen Bühnen zu den fünf meistgespielten Opern. 

Leise flüsternd bricht sich das Grundthema Bahn, noch bevor der erste Auftakt dirigiert ist. Eine Stimme aus dem Off reiht Worte aneinander, die unter die Haut gehen und auf eine tödliche Performance gefasst machen. Und dann ein erster Bruch – der Vorhang hebt sich und der Saal wird hineingeworfen in eine lebhafte Pariser WG des 19. Jahrhunderts. Vier junge Männer sind portraitiert, die mit ihrer Zuwendung zur brotlosen Kunst die Bohème einwandfrei verkörpern und trotz ihrer Geldsorgen dem Motto ‚zu vino sag ich nie no’ fröhnen. 

Kunst und Freiheit bis zum Abwinken

Getrieben durch fröstelnde Existenznöte, wirft der Protagonist Rodolfo (Tigran Hakobyan) seine Ideen seitenweise ins Feuer, um seine Freunde zu wärmen. Wen dieser emotionale Akt noch kalt lässt, schlägt sich spätestens nach einer ausgetüftelten Chorpartie gegen den mietjagenden Vermieter auf die Seite der vier Lebenskünstler. In herausragender Klarheit verbindet das Dirigat von Chenglin Li das Philharmonische Orchester mit dem Puls der Solist*innen. Alles scheint perfekt an diesem Abend, als sich endlich auch eine glockenhelle Mimì (Athanasia Zöhrer) in das Leben von Rodolfo singt. Selbstständig und alleinwohnend präsentiert sich modern und beinahe opernuntypisch eine selbstbewusste junge Frau. Das Herumscharwenzeln der ersten Verliebtheit sowie die pastellige Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft erhellen Puccinis zweite Episode. Sämtliche Blondschöpfe der Chorakademie traumtänzeln als überdimensioniertes Bonbon über die Bühne und stellen ihr junges Können unter Beweis. 

Eine Liebe zum Zerreißen gespannt: Mímí und Rudolfo.

 

Eine Liebe zum Zerreißen gespannt: Mimì und Rodolfo.

Doch die zuckersüße Traumblase platzt mit poetischem Geflüster über den Tod. Schnell werden die bunten Kostüme von Johanna Lakner gegen schattige Töne eingetauscht. Das Thema des Todes ist wieder Dauerbrenner und war insbesondere in Puccinis Schaffenszeit unerschöpflicher Stoff. Von der eigenständigen Schneiderin Mimì bleibt bald nur noch die Hülle einer femme fragile zurück. Der Tod und die damals unheilbare Krankheit Tuberkulose sind klassische Kunstzüge des 19. Jahrhunderts. Doch in La Bohéme gelingt ein frischer Anstrich. Mit seiner technophilen Art lehnte Puccini seine Oper an Elemente der innovativen Filmkunst an.  

Kino im Opernsaal 

Doch Moment: Nicht nur technophil war er, dieser Komponist. Ausgerechnet mit der neuartigen Tontechnik wusste Puccini nichts anzufangen. Bedauernswert für uns – so gibt es heute keine Möglichkeit, den anfänglichen Reinfall von La Bohème nachspüren zu können. Andererseits bleiben uns damit auch Buh-Rufe erspart, die die Brillanz des gegenwärtigen Werks nachträglich trüben würden. Kein Grammophon und Radio also für den modernen Puccini, sondern in der Freizeit lieber krasse Automobile und neue Filmverfahren. So gibt es in seinem sogenannten Meisterwerk Abblenden und Änderungen im Bildformat, die Mimìs Schicksal in neues Bühnenlicht tauchen können. Wer also Fan vom Serienbingen ist, wird in Puccinis Oper sogar ein kurzweiliges Filmerlebnis finden können. Vielleicht auch ein Grund für die voreilige Ablehnung des Stücks: Puccini war seiner Zeit hier um Längen voraus. 

Übrigens kommen nicht nur Serienfans auf ihre Kosten. Durch die intelligente Inszenierung von Alexandra Liedtke wird die Bühne zwischenzeitlich aufregend zweidimensional und die Bespielung der Kulisse erinnert in charmanter Art an einen intimen Theaterabend. Puccinis Meisterwerk kommt zu eurem Glück noch neunfach auf die Kieler Bühne. Ein letzter Tipp für neue Opernbesucher*innen: Karten im ersten Rang bieten wegen der Übertitel das Non-plus-ultra-Erlebnis. 

Hat Rodolfo euch angesteckt? 

Vorstellungen gibt es jeweils um 19 Uhr an den folgenden Tagen: 25.11., 02.12., 26.01., 16.02., 22.03., 12.04., 25.04. Frühere Vorstellungszeiten sind am zweiten Weihnachtsfeiertag um 17:00 Uhr anberaumt sowie am 04.02. um 18:00 Uhr. Für die La Bohème-Hooligans: Beinahe zeitgleich widmet sich auch das Mecklenburgische Staatstheater in Schwerin diesem Stoff. 

 

Amour fou

Die Armour fou, also verrückte Liebe, bezeichnet das, was der Volksmund heute vielleicht auch als ‚toxisch’ bezeichnen würde. Völlig explosiv, rasend und obsessiv kommt eine solche Beziehung daher. Rodolfos bester Freund lässt sich in genau solch ein Liebestreiben verwickeln – samt Fesselspielchen und Dominanz.

Urstoff

Ausgerechnet in einer Zeitung tauchten die Geschichten von Rodolfo und seinen Mitbewohnern erstmals auf. In mehreren Episoden veröffentlichte Henri Murger in den 1840er Jahren kleine Abschnitte dieser Figuren. Die perfekte Basis für eine Serie nach heutigem Format. Inspiration für Murgers kreative Artikelchen boten dabei seine realen Freunde; nur Mimì wurde für die Oper neu erdacht.

Bohème

Das Motiv der Bohème umschreibt Kreise, in denen sich einige Studierende auch heute wiederfinden. Junge Menschen mit künstlerischer, philosophischer und kluger Natur gehören zur Bohème. Oft begleiten sie existentielle Ängste und nicht selten Geldsorgen. Der prominenteste Ort für die Bohème ist die Großstadt, als markigstes Viertel dieses Topos’ gilt Quartier Latin in Paris.

Autor*in
Ressortleitung Kultur

Lena studiert Deutsch und Englisch und ist seit November 2020 Teil der Albrecht-Redaktion. Sie schreibt gern Kultur-Artikel und leitet seit Januar 2024 das Kultur-Ressort.

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