Ich habe neulich ein TikTok von einem jungen Mann gesehen, der seinen Weg zur Therapie so übertitelte: „Ich, wie ich auf dem Weg zur Therapie bin, weil meine Familie nie gegangen ist.“ Ich musste sehr schmunzeln, denn dieses Gefühl kennen wohl viele junge Menschen, die den Schritt in eine Psychotherapie gewagt haben. Vor allem bei größeren Familienzusammenkünften wie Weihnachten wird deutlich: Es ist nicht immer einfach, das generationale Trauma zu durchbrechen. 

Krankheits-Trumpf, unser liebstes Familienspiel 

Disclaimer für meine Eltern, die das hier lesen: Der folgende Artikel ändert nichts daran, dass ich unsere Familie liebe. Bitte schenkt mir trotzdem etwas zu Weihnachten! So, jetzt da das aus dem Weg ist, lasst uns über unsere liebe Verwandtschaft sprechen. An Heiligabend merke ich oft, was ich im restlichen Jahr gerne vergesse: Meine Eltern und vor allem meine Großeltern kommen aus Generationen, in denen über die eigenen Gefühle zu sprechen oder gar zur Therapie zu gehen eine Seltenheit waren. Bei vielen Dingen, die zwischen Raclette und Geschenkpapierfetzen von sich gegeben werden, denke ich mir dann: „Wärt ihr mal zur Therapie gegangen.“ 

Zum Beispiel, wenn meine Omas mal wieder Krankheits-Trumpf spielen. Den gesamten Abend über wird ausdiskutiert, wer die schlimmeren gesundheitlichen Probleme hat. Spoiler: Niemand gewinnt, die jeweils andere hat immer noch einen draufzusetzen. Oder wenn mein Vater mal wieder mit meinem Opa darüber diskutiert, dass er mit über achtzig endlich in Rente gehen soll. Wäre der mal zur Therapie gegangen. Oder wenn meine Oma das Geschenkpapier nicht wegwirft, sondern bügelt und nochmal benutzt, weil sie früher ja gar nichts hatte. Wäre sie mal zur Therapie gegangen. Oder, oder, oder… 

Stille Nacht, stressige Nacht 

Es geht allerdings bei weitem nicht nur mir so an Weihnachten. Bei einer Umfrage in Großbritannien gaben 26 Prozent der Befragten an, dass sich ihre mentale Gesundheit in der Weihnachtszeit verschlechtere. Doch nicht nur die eigene mentale Gesundheit ist für viele Menschen ein großes Thema im Dezember. Noch viel mehr Personen haben ähnliche Überlegungen wie ich über ihre Familienmitglieder: 54 Prozent sagten, sie würden sich in der Weihnachtszeit Gedanken über die mentale Gesundheit von Freund:innen und Verwandten machen. „Wären die mal zur Therapie gegangen“, schwirrt während der Feiertage wohl vielen Menschen durch den Kopf.  

Abwarten und Glühwein trinken 

Was können wir nun tun, damit das Weihnachtsfest trotz mentaler Anstrengung in positiver Erinnerung bleibt? Erstmal ist es wichtig, die Erwartungen herunterzuschrauben. Kein Mensch ist perfekt, also ist es auch keine Familie und deshalb wird es auch kein Weihnachtsfest sein. Außerdem solltet ihr euch den Raum geben, euch während der Feiertage Zeit für euch selbst zu nehmen.  In vielen Familien hängt die Erwartung in der Luft, dass wirklich jede Minute zu Weihnachten zusammen verbracht werden muss. Ganz ehrlich, das kann doch gar nicht gut gehen. Also: Atmet tief durch und genießt euer Weihnachtsfest! Und wenn es mal schwierig wird, nehmt einen großen Schluck Glühwein und erinnert euch daran, dass unsere Verwandten anders großgeworden sind als wir.  

Autor*in
stellvertretende Chefredakteurin

Mira ist 22 Jahre alt und studiert seit dem WiSe 2020/21 Soziologie und Deutsch an der CAU. Sie ist seit November 2020 Teil der ALBRECHT-Redaktion und leitete ab Februar 2021 für ein Jahr das Ressort Hochschule. Ab Februar 2022 war sie für ein Jahr die stellvertretende Chefredakteurin.

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