Leseratte: Wovon du träumst – ein Roman von Kira Gembri

Weltweit leben circa 360 Millionen hochgradig hörbehinderte oder gehörlose, beziehungsweise taube Menschen; davon ungefähr 83 000 in Deutschland. Bei rund fünfzehn Prozent ist die Gehörlosigkeit erblich bedingt. Viele Betroffene verlieren aber erst im Laufe ihres Lebens ihr Hörvermögen, zum Beispiel durch Geburtskomplikationen, Unfälle, oder die Einnahme von Medikamenten.  

Doch wer wird überhaupt als taub bezeichnet? Die Medizin orientiert sich dabei an dem Schweregrad des Hörverlustes. Laut Gehörlosenbund macht nach Ansicht der Gehörlosengemeinschaft allerdings nicht das fehlende Hörvermögen die Gehörlosigkeit aus, sondern wird laut Betroffenen über Kultur und Sprache definiert. Unter die Bezeichnung ‘taub’ fallen damit Menschen, die zur Kommunikation in erster Linie Gebärdensprache verwenden. 

Von Träumen verfolgt werden und vom Träume verfolgen 

In ihrem Roman Wovon du träumst erzählt Kira Gembri von der gehörlosen Studentin Emilia, die nach ihrem Schulabschluss nach Wien zieht, um dort ihr Studium zu beginnen. In ihrer Kernfamilie sind alle taub – sowohl ihre beiden Brüder als auch ihre Eltern. Sie sieht sich gefangen im sozialen Umfeld ihrer gehörlosen Familie. Es ist zwar bequem, steht aber ihren Ambitionen im Weg.  

In der Stadt der Musik möchte sie ihre Komfortzone verlassen und hat sich für ihre Zeit als Studentin eine Liste geschrieben, durch welche sie ihren Traum wahr werden lassen möchte: In die Welt der Hörenden eintauchen. Emilia möchte Klavierspielen lernen, herausfinden, wie der Regen klingt, und vieles mehr. Doch dies gestaltet sich schwieriger als gedacht.  

„Das Klavier scheint misstrauisch auf mich zu lauern. Mit gebleckten Zähnen sieht es mir aus der Mitte des Raumes entgegen, als wäre es ein Ungeheuer, das den Durchgang zu einer anderen Welt bewacht – einer Welt, in die ich nicht gehöre.“ 

In Wien begegnet sie wenige Tage nach ihrer Ankunft Nick, welchem sie auf den ersten Blick das Image eines Partygängers anhaftet. Zuerst scheinen Emilia und Nick nicht auf derselben Wellenlänge zu sein, was sich aber mit der Zeit ändert. Am Anfang ist Emilia für Nick nur das Mädchen, dessen Hörgeräte er dummerweise kaputt gemacht hat. Doch mit der Zeit freunden sich die beiden an und Nick hilft Emilia bei ihrer Liste, so gut er kann. Allerdings gibt es in Nicks Vergangenheit ein Geheimnis. Bis vor einigen Jahren war Musik sein Leben, es gab für ihn nichts Wichtigeres als seine Geige. Emilia hingegen hat eine schwere Entscheidung zu treffen. Ihre Beziehung zueinander wird auf die Probe gestellt. 

Wundervolle Geschichte 

Gehörlosigkeit im Rahmen der Inklusion ist oft nicht das Thema, an das als erstes gedacht wird. In Wovon du träumst spielt es aber eine zentrale Rolle. Während des Lesens nehmen die Lesenden Emilia als eine starke Persönlichkeit wahr, welche unglaublich selbstständig ihre täglichen Hürden meistert und nicht auf die Hilfe anderer Personen angewiesen ist. Sie geht ihren eigenen Weg und verfolgt ihre Träume. Der Text ist sehr fesselnd geschrieben. Die vielen Dialoge lassen den Roman besonders lebhaft wirken. Geschrieben wurde aus beiden Perspektiven – sowohl aus der von Emilia als auch aus der von Nick.

Schlüsselelement des Buches ist nicht nur die Gehörlosigkeit, sondern auch die Musik, die zugleich eine Kluft, aber auch eine Brücke zwischen den Hörenden und den Gehörlosen darstellt. Die Beziehung der Protagonist:innen zueinander steht ebenfalls im Vordergrund. Trotz wiederkehrender Krisensituationen kommt Humor nicht zu kurz: „Setze einen Gehörlosen vor einen Horrorfilm, und die Chancen stehen gut, dass er noch vor der Hälfte einschläft.“ 

Durch den Roman wird ein Einblick in das Leben einer Gehörlosen gewährt. Vorurteile werden beseitigt, sowie Klischees aufgeklärt. Der Roman führt den Lesenden die Einschränkungen und Umstände vor Augen, mit denen ein tauber Mensch täglich konfrontiert wird und lässt sie den Lesenden in einem größeren Ausmaß begreifen. Außenstehende werden nie ein umfassendes Verständnis dafür entwickeln und das volle Ausmaß begreifen können, was für Einschnitte die Gehörlosigkeit darstellt, solange sie nicht selbst betroffen sind.  

„Jeder Gehörlose kennt Situationen wie diese zur Genüge: Eigentlich ist man sich keines Fehlers bewusst, aber der Gesichtsausdruck der anderen Leute macht einem deutlich, dass etwas nicht stimmt.“– Emilia 

Es ist von Bedeutung, Außenstehende für Themen im Bereich Inklusion zu sensibilisieren und die Achtsamkeit im Umgang mit den Betroffenen zu fördern. So greift der Roman das Problem auf, dass Gehörlose – generell Menschen mit Behinderung – oft von ihren Mitmenschen bemitleidet und als hilflos angesehen werden. Dazu nimmt Emilia im Roman folgende Position ein: „Es gibt aber keinen Grund, mich wie ein rohes Ei zu behandeln. Und dann auch noch dieser bedauernde Blick – ich hasse so was […]. Schließlich bin nicht krank, ich kann einfach nur nicht hören.“  

Die Autorin Kira Gembri hat sich vor dem Schreiben des Buches ausführlich mit dem Thema Gehörlosigkeit auseinandergesetzt, was die Hauptfigur und ihr Leben (zumindest für Nicht-Betroffene) umso authentischer erscheinen lässt. Auch ohne von dem Thema Gehörlosigkeit betroffen zu sein, nimmt das Buch die Lesenden sehr gut mit und gibt viele Einblicke in den Alltag einer Gehörlosen. Eine schöne Lektüre, um für ein paar Stunden den Alltag zu vergessen und in eine andere Welt einzutauchen. Sehr empfehlenswert!  

Bei Interesse am Thema Gehörlosigkeit finden sich auf der Internetseite des Gehörlosenbundes viele Informationen dazu (https://www.gehoerlosen-bund.de/).

Autor*in

Marie-Claire ist 23 Jahre alt und seit dem Sommersemester 2022 beim Albrecht.

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